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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

berichte → jahresbericht 1997
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Jahresbericht des vorsitzers für 1997

Annual report of the chairman for the year 1997
Zitate des jahres

"Die Reform ist tot", meldete die "Bayerische Staatszeitung" vom 6. juni 1997, "Die Reform ist nicht mehr aufzuhalten", behauptete der präsident der kultusministerkonferenz, professor Rolf Wernstedt ("Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 19. juni).

"Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht zur Verwirrung beigetragen wird", stellte die wiener "Presse" am 14. jänner 1998 fest. Und ein ehemaliger berliner wissenschaftssenator resümierte im august 1997: "Es ist lächerlich, was hier vor aller Augen abläuft. Die Reform ist lächerlich (unbedeutend in ihrem Gehalt), die professionellen Kritiker sind lächerlich (in ihrer aufgeblasenen Wichtigtuerei), die Juristen machen sich lächerlich (mit ihrem pseudo-logischen Argumentiergehabe) und die Politiker lachen sich eins, weil sie Stoff im Sommerloch haben, der unverhofft kam und als Ablenkung sehr probat eingesetzt werden kann. Alle zusammen geben sich und Old-Germany der Lächerlichkeit preis."

karikatur

Der satz "Die neue rechtschreibung ist da" im letzten jahresbericht ist nicht widerlegt, aber die definitive bestätigung ist noch ausgeblieben. In Deutschland gaben vor allem die tätigkeit der zwischenstaatlichen kommission, weitere gerichtsentscheide und beratungen im bundestag zu reden. Das unbehagen kann man mit einem zitat des früheren baden-württembergischen ministerpräsidenten Lothar Späth vom 15. september 1997 umschreiben: "Wir brauchen wieder Stürmer statt Schiedsrichter. Ich vergleiche den derzeitigen Zustand Deutschlands mit dem des Fußballs unter der Voraussetzung, daß 22 Schiedsrichter einlaufen und ein Stürmer spielt. Für so ein Spiel zahle ich keinen Eintritt."

Am 25. märz 1997 konstituierte sich im Institut für deutsche sprache (Ids), Mannheim, die zwischenstaatliche kommission für die deutsche rechtschreibung. Für die Schweiz gehören ihr an: dr. Peter Gallmann (Schaffhausen), dr. Werner Hauck (Bern) und prof. dr. Horst Sitta (Herrliberg). Eine ihrer aufgaben ist die beseitigung von unklarheiten und unterschieden zwischen den wörterbüchern, womit sie voll in die schusslinie der deutschen zeitungen geriet. Sie versuchte einen ausweg zu finden, indem sie in einigen bereichen die schreibweise freigab — und damit die reform weiter zusammenstutzte —, worauf dann aber die kultusminister an der ursprünglichen regelung festhielten, weil die meisten variantenschreibungen bis zum ende der übergangszeit (2005) ohnehin möglich sind. Aufsehen erregte der austritt des erlanger sprachwissenschaftlers Horst Haider Munske. Die an dieser stelle mehrmals angesprochenen probleme der legitimierung des vorgehens der kultusministerkonferenz und ihrer kommission sollen nun durch die schaffung eines beirats mit beteiligung von schriftstellern und journalisten entschärft werden. Man darf gespannt sein, wie er aussieht und ob er vielleicht über die ihm wohl zugedachte bremserfunktion hinaus der erkenntnis den weg ebnen kann, dass ortografiepflege eine permanente aufgabe ist.

Zur nachbesserung von reformvorschlägen siehe weiter unten eine karikatur!

Der reigen der gerichtsentscheide auf der ebene der deutschen bundesländer drehte sich munter weiter; es dürften jetzt 30 sein, wobei die befürworter der reform bei diesem "elfmeterschiessen" leicht führen. Im deutschen bundesland Niedersachsen hatte ein gerichtsentscheid zur folge, dass die reform an den schulen auf anweisung von ministerpräsident Gerhard Schröder und gegen die absicht von kultusminister Rolf Wernstedt ausgesetzt wurde. Den juristischen schlusspunkt soll das bundesverfassungsgericht in Karlsruhe setzen.

In mehreren bundesländern wurden volksbegehren gegen die neuregelung gestartet. In Schleswig-Holstein verlangt es, den folgenden satz in das schulgesetz aufzunehmen: "In den Schulen wird die allgemein übliche Rechtschreibung unterrichtet. Als allgemein üblich gilt die Rechtschreibung, wie sie in der Bevölkerung seit langem anerkannt ist und in der Mehrzahl der lieferbaren Bücher verwendet wird." Damit würde — als unikum in der rechtsgeschichte — die normative kraft des faktischen gesetzlich festgeschrieben. Das begehren fusst auf der weitverbreiteten ansicht, dass die schule nicht berechtigt ist, eine rechtschreibnorm zu setzen — und illustriert auf schöne weise die leider weniger verbreitete erkenntnis, dass sie das auf jeden fall tut, mit oder ohne absicht.

Der vorstoss im deutschen bundestag mit dem ziel, dass der bund die neuregelung nicht übernimmt, wurde im april 1997 beraten, aber nach mehrmaliger verschiebung noch nicht abschliessend behandelt. Einige male liess sich der rechtsauschuss vernehmen; zuletzt im sinne einer abschwächung. Die unterzeichner des vorstosses erhielten im juli post vom BVR; im dezember ging ein brief an alle bundestagsabgeordneten.

Die österreichische kultur­ministerin bekräftigte ihre absicht, an der neuregelung festzuhalten; in der schule seien bereits positive effekte sichtbar. Dagegen inszenierte die konservative wiener zeitung "Die Presse" im september einen boykott. Eine autoren­gemeinschaft reichte eine musterklage ein, um änderungen der schreibweisen in schulbüchern gegen den willen der jeweiligen autoren untersagen zu lassen. Eine umfrage bei unternehmen ergab als haupt­kritikpunkt, dass das reformwerk unlogisch sei. "Eine Kleinschreibung mit logischen Abteilungs- und Beistrichregeln fände wesentlich mehr Zustimmung", berichtete "Die Presse".

Auch in der Schweiz wurden politische und juristische schritte gegen die reform unternommen. Sie stammen noch deutlicher als in Deutschland aus der rechten politischen ecke. Parlamentarische vorstösse gab es von seiten der Freiheitspartei und der Schweizer demokraten im nationalrat, in Baselland (überraschend überwiesen), im Aargau und in der stadt Bern.

Erstmals beschäftigte sich ein schweizer gericht mit der rechtschreibreform. Die zivilabteilung des gerichtskreises VIII Bern-Laupen wies eine klage ab, die von der erziehungsdirektoren­konferenz eine sistierung sämtlicher schritte zur einführung der neuen rechtschreibung bis zu einem endgültigen entscheid in Deutschland verlangte.

Ein neuer politischer Geist ist gefragt, der Experimente nicht scheut …

prof. Kurt Sontheimer

Im moment stellt sich die situation nicht anders dar als vor einem jahr. Ein ereignis, das die neuregelung in entscheidender weise vorangebracht oder gestoppt hätte, ist im berichtszeitraum nicht auszumachen. Das heisst aber nicht, dass in den medien ruhe geherrscht hätte; nicht einmal im hochsommer. Wieder war ihre beobachtung äusserst aufwändig und würde eigentlich einen eigenen vorstandsposten "archivar" rechtfertigen. (Irgendwann wird allerdings wieder in einem jahr nicht mehr zu lesen sein als heute an einem tag.) Wir haben wohl bei weitem nicht alles mitbekommen, aber immerhin 218 meldungen der Deutschen presseagentur (dpa), dazu viele zeitungsberichte, beispielsweise 97 der wiener "Presse" oder 75 der berliner "tageszeitung". In der Schweiz sind zwei umfragen zu erwähnen, die einmal mehr zuungunsten der neuregelung ausgegangen sind, nämlich im märz im "Sonntagsblick" und im august in der "Coop-Zeitung". Die schweizerischen medien lassen auf ein hierzulande viel geringeres interesse an der angelegenheit schliessen — in einem jahr weniger (abgedruckte) leserbriefe als in Deutschland in einer woche —, aber auch auf mentalitätsunterschiede, so dass man sich oft vorkommt, als lebe man auf einem anderen planeten.

Bei der presserecherche konnte der BVR zeitweise mit dem Schweizerischen verein für die deutsche sprache zusammenarbeiten.

Mehrere stellungnahmen des BVR wurden an die presse im in- und ausland gesandt, aber wie immer nur zu einem kleinen teil abgedruckt. Man liess sie daher auch den angesprochenen personen zukommen. Zum neujahr 1998 gab es einen grösseren versand vor allem an gegner, etwa die vielen deutschen bürgerinitiativen mit dem wort "gegen" im namen (z. b. Initiative Wir Lehrer gegen die Rechtschreibreform). Die reaktionen waren nicht sehr zahlreich, aber sehr unterschiedlich. Einerseits ergaben sich umfangreiche korrespondenzen, anderseits sandte ausgerechnet ein volksvertreter, der aargauer grossrat Dragan J. Najman, einen brief mit einer dummen bemerkung ungeöffnet zurück.

Natürlich ist der einfluss des BVR sehr beschränkt. Einerseits ist er zuwenig bekannt. Da widmen die "Aargauer Zeitung" und die "NZZ" dem problem eine ganze seite und radio DRS 2 eine sendung, beleuchten alle aspekte vor allem der entwicklung in Deutschland, aber dass es in der Schweiz einen Bund für vereinfachte rechtschreibung gibt, wird nicht erwähnt. Anderseits wird die debatte in Deutschland hierzulande nicht in allen einzelheiten zur kenntnis genommen, weshalb wir uns eher als zuschauer vorkommen. Kaum in frage kommt eine stärkere betätigung im ausland über die briefe an die bundestagsabgeordneten hinaus, die übrigens keinerlei reaktionen auslösten.

BVR

Die generalversammlung am 1. märz in Zürich wählte den vorstand unverändert für weitere zwei jahre. Der vorstand traf sich im januar 1998 ebenfalls in Zürich.

Der schreibende nahm im april an der generalversammlung des Schweizerischen vereins für die deutsche sprache (SVDS) in Basel teil, wo sich ja nun an der universität die geschäftsstelle und die sprachauskunft befinden. Der SVDS veranstaltete im juni in Luzern einen vortrag von dr. Klaus Heller, Mannheim/Leipzig, geschäftsführer der zwischenstaatlichen kommission für die deutsche rechtschreibung.

Die Rechtschreibung erschien seit dem letzten jahresbericht unter der leitung von René Schild dreimal mit total 28 seiten. Nummer 172 berichtet, "Wie Zürich dem schleifen-s den garaus machte", sowie über die französische ortografie und enthält zwei beiträge unseres schweizerisch-dänischen mitglieds Arne Hamburger. In nummer 173 finden sich eine presseinformation des Instituts für deutsche sprache, einen hinweis auf die in neuer schreibung erscheinende "Tages-Anzeiger"-beilage "Ernst" und einen nachruf auf Alfons Müller-Marzohl. In nummer 174 vom februar 1998 wurde der brief des BVR an alle bundestagsabgeordneten abgedruckt.

Die präsenz des BVR im internet konnte noch nicht im gewünschten mass ausgebaut werden. Immerhin ist die adresse dank unserem mitglied Mario Baseggio schon kürzer: www.baseggio.net/bvr.htm

Die zahl der mitglieder ist leider nach wie vor rückläufig. Immerhin müssen wir nicht, wie Greenpeace, leute entlassen! Vor einem jahr waren es 1095; anfang märz 1998 zählen wir 1031. Davon sind 260 (+2) "lebenslänglich" und nur noch 2 kollektiv. Nach meinen informationen sind folgende todesfälle zu beklagen: Johann W. Groeneveld, Ardez (mitglied seit 1980), Ernst Lüthin, Muttenz (1991), Curo Mani, Andeer (1957), Alfons Müller-Marzohl, Luzern (1958), Erich Röthlisberger, Meinisberg (1972), Christian Rufener, Frutigen (1960), Maria Wyrsch-Walser, Sarnen (1972).

… die welt an einem kleinen ort wohnlicher und freier zu machen …

Alfons Müller-Marzohl, 1983

In dr. Alfons Müller-Marzohl, Luzern, verlieren wir einen grossen freund und förderer unserer sache. Er wurde 1923 in Flüelen geboren, stammt aber zufälligerweise aus dem gleichen dorf wie der schreibende, nämlich aus Näfels. 1963 bis 1983 gehörte er für die Christlich-soziale partei und die CVP, die er mitbegründete, dem nationalrat an. Der sprachberatungsdienst der bundesverwaltung geht auf seine anregung zurück. 1954 bis 1964 redigierte er den "Sprachspiegel". Die rechtschreibreform unterstützte er in vielen artikeln sowie an internationalen konferenzen.

Wort des jahres 1997: «Gring ache u seckle, seckle, seckle …» (Den kopf senken und laufen, laufen, laufen …)

Anita Weyermann, leichtatletin

Zur frage, ob sich der BVR nicht von der zur zeit verwirklichten reform distanziere, antwortete ich herrn prof. Munske: "Das tun wir doch, indem wir den verein nicht auflösen und unsere ziele weiterverfolgen. Wer den BVR zur kenntnis nimmt, sieht das, und wer ihn nicht zur kenntnis nimmt, lässt sich auch durch eine noch so dramatische erklärung nicht beeindrucken." In diesem sinne danke ich allen mitstreitern.

Zürich, 7. märz 1998

Der vorsitzer: Rolf Landolt

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brief

So geht ein volksvertreter mit dem volk um: grossrat Dragan J. Najman, Baden AG.

Die nachbesserung von reformvorschlägen

"Die zwischenstaatliche Kommission für die deutsche Rechtschreibung will die geplante umstrittene Rechtschreibreform so ändern, daß auch künftig viele alte Schreibweisen weiter gültig sind." (dpa, jan. 1998)

Das ursprüngliche reformkonzept hat noch ein paar ecken und kanten …

Da muss man noch etwas reduzieren … und da …

Die reform nach bereinigung einiger umstrittener einzelfragen.

Die (abgeänderte) karikatur von Walter Hanel passt allerdings nicht nur zum kommissionsvorschlag dieses jahres, sondern zur ganzen reformdiskussion seit 1980 oder seit 1958 oder seit 1924 oder seit …