Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Erinnerungen, Reden, Schriften
- autor
- Müller, Guido
- titel
- Erinnerungen, Reden, Schriften.
- verlag
- Francke
- ort
- Bern
- datum
- auflage
- 1
- ausstattung, umfang
- gebunden, 526 s., ill.
- umschlag

Inhaltsverzeichnis
| Aus meinem Leben und dem einer Stadt (1963) | 13 |
| […] | |
| Ausgewählte Reden, Vorträge und Aufsätze | 137 |
| […] | |
| Zur Kleinschreibung (1934) | 288 |
| […] | 297 |
| Eidgenössisches | 323 |
| […] | |
| Staat und Staatsbürger | 435 |
| […] | |
| Partei | 473 |
| […] | |
| Aphorismen und Glossen (Aus den Notizbüchern) | 511 |
| […] |
Klappentext
Guido Müller (1875 bis 1963) war nach dem Besuch der Eisenbahnschule (jetzt Verkehrsschule) am Technikum Biel von 1893 bis 1907 bei verschiedenen Eisenbahngesellschaften (Nordost-Bahn, Jungfraubahn, Gotthardbahn) im Stations- und Verwaltungsdienst tätig. Von 1907 bis 1920 Lehrer an der Verkehrsschule Biel. 1920/21 Stadtschreiber, 1921 bis 1947 Stadtpräsident (und bis 1924 Baudirektor, von 1925 an Finanzdirektor) von Biel; 1925 bis 1943 Nationalrat.
Das Buch enthält, außer Guido Müllers Selbstbiographie Aus meinem Leben und dem einer Stadt, die hier in dritter Auflage erscheint, eine Auswahl von etwa vier Dutzend bisher größtenteils ungedruckten Reden, Vorträgen und Aufsätzen sowie verschiedene unveröffentlichte Dokumente und Aufzeichnungen aus dem Nachlaß.
Obgleich in erster Linie als Erinnerungsbuch gedacht, eignet dieser Sammlung von Reden und Schriften Guido Müllers nicht nur biographischer, sondern auch historisch-dokumentarischer Wert. Ein bewegtes Vierteljahrhundert Bieler Geschichte (1921 bis 1947) spiegelt sich darin wider, und der Leser erhält oft Gelegenheit, hinter die Kulissen der Lokalpolitik zu blicken. Den Reden aus dem Nationalrat verleihen das unvoreingenommene Urteil des Verfassers und sein Mut zur eigenen Überzeugung eine Bedeutung, die über die unmittelbare Aktualität hinausgeht.
Auszüge
S. 288: Zur Kleinschreibung*
*Antwort auf eine Interpellation im Stadtrat, 22. Februar 1934. (Nach dem stenographischen Entwurf; leicht gekürzt.) – Vergleiche auch oben, Anmerkung 19 zu Seite 71.
In Dänemark hat es vor ein paar Jahren die größte Geschichte gegeben, als man die großen Buchstaben abschaffen wollte. Es wird bei uns wahrscheinlich auch noch etliche Geschichten geben, ehe man den überflüssigen großen Buchstaben entschieden an den Kragen geht. Es ist mit den großen Buchstaben wie mit den National- und Kantonsräten: wenn sie schon einmal auf ihren Sesseln sitzen, so läßt man sie sitzen. Und wer weiß, ob bei uns die großen Buchstaben nicht auch mit Politik und Religion verknüpft werden. Wir haben ja ein besonderes Talent, alle Sachlichkeit handkehrum parteiisch und konfessionell zu fürben und damit der rein sachlichen Diskussion zu entziehen Vielleicht kriegen wir eine Partei der großen Buchstaben, die kleinen Buchstaben werden als kommunistisch verschrien, und dann ist es um die Orthographiereform geschehen, bevor sie recht besprochen worden ist.
Felix Moeschlin in der «National-Zeitung» vom 18. Dezember 1926.
Undank ist der welt lohn! Da verschafft der gemeinderat durch seinen kleinschreibungsukas der ganzen bevölkerung, alt und jung, weib und mann, einen ausgiebigen gesprächsstoff und der presse gelegenheit, ihre spalten mit etwas vernünftigem zu füllen – ich sage gelegenheit und behaupte nicht, daß sie, die presse, von dieser gelegenheit gebrauch gemacht habe – und die quittung: 1% zustimmung und 99% verdammung! Eine flut von grobheiten, schmähungen, hohn und spott, alles versetzt mit einem ordentlichen schuß von demagogie.
Vom herrn grobian und schimpfbold sei eine kostprobe serviert – nur eine, sie genügt vollständig –: «Solche Idioten sollte man boykottieren. Solche Wische, also mit Kleinschreibung, sollte niemand beachten, sondern einfach zum Mist werfen. Es ist eine Kulturschande, daß sich gerade eine Behörde zu solchem Blödsinn hergibt. Aber eben, von Idioten kann man nichts besseres erwarten!» Mit der demagogie versuchen es diejenigen, die dinge heranziehen, die mit der sache, nämlich der kleinschreibung, nicht das mindeste zu tun haben, durch die aber denkfaule leute überrumpelt und gegen den gemeinderat scharfgemacht werden.
Zum beispiel wenn der gemeinderat daran erinnert wird, daß es heute ein arbeitslosenproblem gibt - als ob die behörden nicht alles, was in ihrer macht steht, unternähmen, um die arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Oder daß das neue baureglement auf sich warten lasse – als ob wegen des kleinschreibungsbeschlusses dieses reglement zurückgestellt worden und zu kurz gekommen wäre.
Ein dritter gar hat beziehungen zwischen kleinschreibung und kehrichtabfuhr herausgefunden und vertritt den hervorragenden standpunkt, daß man, solange das kehrichtabfuhrwesen nicht reformiert sei, auch keine reform der rechtschreibung brauche!
Ein vierter fragt entrüstet, ob der bürger so hohe steuern bezahle, damit der verschwenderische gemeinderat dem kostspieligen luxus der kleinschreibung frünen könne.
Ein fünfter hat sogar entdeckt, daß die kleinschreibung mit der nacktkultur aus der gleichen trüben quelle stamme!
Die kanzlei hat die gedruckten «ußerungen, soweit sie ihr zur kenntnis gekommen sind, gesammelt. Sie bilden ein ordentliches bündel. Im ganzen einige tausend zeilen, aber darunter keine hundert, die sachlich zur sache reden! Das beweist, daß die kritiker nicht überfluß an guten gründen hatten, denn sonst hätten sie sicher davon gebrauch gemacht. Statt sachkenntnis meldete sich voreingenmenheit zum wort, statt ruhigen urteils leidenschaftliche gereiztheit, statt heller vernunft dunkle gefühle – natürlich nehme ich die interpellanten aus! Immerhin, die deutsche sprache hätte bessere anwälte verdient …
Ich will nicht polemisieren, denn gegner können mir hier nicht antworten. Aber nicht versagen will ich mir, ein paar besonders saftige rosinen aus den verschiedenen kuchen herauszuklauben, zur erheiterung des rates.
Da ist einer, der sich als zur jungen generation gehörend vorstellt. Nach dem deutsch, das er schreibt, scheint er tatsächlich noch nicht einmal die kinderschuhe ausgetreten zu haben. Ich bin froh für ihn, daß er noch jung ist und hoffentlich noch so viele jahre vor sich hat, um ordentlich deutsch zu lernen! Item, der «tiefverwurzelte – junge mann empört sich zunächst über die «sozialistische anonymität» (dunkel ist der rede sinn!), die in Biel ihren zauber beginne, wittert hinter dem beschluß des gemeinderates «nihilistische einflüsse☼, die «den aufbau der versteckten diktatur» anstreben (wörtlich!), bezeichnet die kleinschreibung als bolschewistische ausgeburt «gleichschaltungstoller funktionäre» – wer's nicht glaubt oder wen's gelüstet, kann alle diese tollheiten nachlesen im «Expreß» nr. 15 vom 18. januar 1934.
Daß der, der seine sonst recht lesenswerten tagesglossen zur zeitgeschichte als göttervater Kronos signiert, den vermessenen beschluß des sündigen gemeinderates mit blitz und donner verfolgt und bestraft, ist durchaus in ordnung. Das war von jeher die sprache, mit der vom hohen Olymp herab das jämmerliche menschengewürm an sein durchbohrendes nichts erinnert wurde. Aber in einem geht Kronos unbedingt zu weit: nämlich wo er dem gemeinderat nicht nur das kleinschreiben, sondern auch das nacktbaden verbieten will. Dagegen muß ich entschieden verwahrung einlegen. Wer baden will, soll auch das recht haben, sich dazu auszuziehen, auch wenn es ein gemeinderat ist. Das ist ein unveräußerliches recht, das sich der gemeinderat – soweit er badet – auch vom Olymp und seinen göttern nicht schmälern lassen wird.
Es gibt vier sorten von kritikern. Erstens solche, die die maßnahme kritisieren, weil sie vom gemeinderat von Biel herrührt. Die sache selber finden sie zwar so uneben nicht und könnten sich schlieälich damit abfinden – aber der befehl dazu müßte mindestens von Berlin kommen. Denn dort sitzen die propheten und führer der rechtschreibung und von anderem, von dort hat der Schweizer seine erleuchtung und erneuerung zu beziehen
Zweitens die große gruppe, oder sagen wir ruhig die große masse jener, die in gottes namen alles ablehnen, was neu ist oder scheint und sie zu lästigem umlernen zwingt. Wenn es in der welt auf diese leute ankäme, stäken wir noch im tiefsten mittelalter. Mit diesen leuten ist nicht zu rechten, ihre meinung fällt nicht ins gewicht. Sie sind die geistigen nachkommen derer, die sich der verwendung des deutschen als sprache der wissenschaft widersetzten.
Eine dritte gruppe widerspricht aus beruflichen erwägungen. Sie ist gegen jede änderung der rechtschreibung, weil sie glaubt, durch eine solche wirtschaftlich geschädigt zu werden. Das sind hauptsächlich die buchdrucker, wie sich deutlich in verschiedenen äußerungen von angehörigen dieses gewerbes zeigt. Indessen gibt es auch buchdruckereien, die in ihrem geschäftsverkehr die kleinschreibung anwenden! Übrigens würde es sich um eine kurze übergangszeit handeln; nachher wird das buchdruckergewerbe von der neuerung nicht nur keinen nachteil mehr haben, sondern von der vereinfachung profitieren. Endlich ist wohl auch die frage erlaubt: Ist das schrifttum da für die druckereien, oder umgekehrt die druckereien für das schrifttum?
Und nun viertens diejenigen, die wirklich sachliche gründe ins feld führen. Ich habe mich bemüht, diesen gründen mit möglichster unbefangenheit nachzugehen, aber ich muß gestehen, in dem wust der unsachlichkeiten nur spärliche spuren gefunden zu haben.
Da ist einmal die behauptung, die kleinschreibung beraube die deutsche sprache einer zum bessern verständnis notwendigen unterscheidungsmöglichkeit. Nun sprechen wir mundart und schriftdeutsch, ohne große und kleine buchstaben zu unterscheiden; dazu rauscht die sprache an unserm ohr vorbei, wogegen das auge auf geschriebenem und gedrucktem beliebig verweilen kann. Telegraphie und stenographie kennen die unterscheidung von großen und kleinen buchstaben nicht. Dennoch muß man sich verstehen und versteht sich auch. Es ist wirklich nicht einzusehen, warum die schrift einer solchen krücke bedürfen sollte.
Weiter wird gesagt, mit der beseitigung der großschreibung beraube man die deutsche sprache eines charakteristikums, das sie vor allen andern sprachen auszeichne. Nun, auch der Chinese zeichnet sich durch seinen zopf vor allen andern völkern der erde aus, aber ich habe nicht gehört, Daß wir oder ein anderes volk ihn darum beneidet oder auch nur die geringste lust verspürt hätten, es ihm gleichzutun – genau so wenig wie Franzosen, Engländer oder Italiener in versuchung kommen, die deutsche großschreibung nachzuahmen. Ihre prosa ist darum nicht schlechter als die heutige deutsche prosa, im gegenteil …
Übrigens sind große buchstaben durchaus nicht etwas organisches, mit der deutschen sprache verwurzeltes und verwachsenes, sondern etwas, das ihr erst spät an- oder aufgeklebt wurde. Und zwar nicht etwa von großen sprachschöpfern und sprachgestaltern, sondern von buchdruckern, grammatikern und pedanten. Luther, der sprachgewaltige, der neuschöpfer des deutschen, schrieb klein Er, der sich nicht nur auf der erde, sondern selbst in himmel und hölle auskannte wie kein zweiter, er kam ohne große buchstaben aus! großschreibung verwendete er nur zur auszeichnung gewisser wörter wie Gott und zur hervorhebung des satzanfanges. Erst ein grammatiker namens Schottel – wer außer grammatikern und schulfüchsen spricht heute noch von ihm? – erst dieser Schottel heckte die großschreibung aus. Das war im 17. jahrhundert. Und hat nicht Goethe ausgerufen: Wer kann was dummes, wer was kluges sagen, das nicht die vorwelt schon gedacht? Diese vorwelt, einschließlich der griechischen und römischen, hat es gedacht, gesagt und geschrieben, ohne dazu der großschreibung zu bedürfen.
Davon hat der mann, der die kleinschreibung als einen «sprung ins primitive» abtun will («Bieler Tagblatt – vom 30. januar 1934), keine blasse ahnung. Er empfiehlt dem gemeinderat achtung vor der sprache – das sei ein sittliches gebot. Dabei schreibt dieser sprachmoralist ein richtiges rot- oder kauderwelsch, ein wahres zigeunerdeutsch. Davon nur zwei oder drei proben! Er schreibt «Korrektschrift» und meint rechtschreibung. Er will sagen, man veröffentliche in der zeitung wirtshausverbote, und schreibt: «Man publiziert per Zeitung über Fehlbare Wirtschaftsverbote.» Er schreibt von «diversen Verkehrsmitteln inklusive Flugzeuge» und bildet sich ein, das sei deutsch! muß das, nach seinem eigenen urteil, ein unsittlicher mensch sein!
Man versucht endlich, den armen und unwissenden gemeinderat einzuschüchtern, indem man schriftgelehrte und schriftsteller – Ermatinger, Huggenberger, Zahn usw. – aufrücken läßt. Das verfängt nicht – am allerwenigsten, wenn zum beispiel herr Jegerlehner schreibt: «Solange Deutschland nicht vorangeht, bin ich nicht für die Kleinschreibung der Hauptwörter.» Wenn schon mit autoritäten anstatt mit gründen gefochten werden soll, so kann der gemeinderat mit ebenso gewichtigen und noch gewichtigeren kronzeugen für die kleinschreibung aufwarten. Ich nenne den uns allen bekannten und anerkannten professor Otto von Greyerz, der seit jahren für die kleinschreibung eingetreten ist. Und gar der jüngst verstorbene Stefan George, der geradezu als hohepriester des deutschen schrifttums verherrlicht wird: er bevorzugte die kleinschreibung aus künstlerischen gründen. Dieser wiegt, wenn wir den nachrufen glauben dürfen, die von der vereinigung für die großschreibung aufgebotenen zeugen alle miteinander auf. (Auch daran darf hier vielleicht erinnert werden, Daß in dem großen schatzhaus der deutschen sprache, mit dessen bau die brüder Jacob und Wilhelm Grimm vor achtzig jahren begonnen haben – ich meine das inzwischen zu einer langen reihe von bänden angewachsene, noch nicht vollendete deutsche wörterbuch –, von der ersten bis zur letzten seiner vielen tausend seiten alles klein geschrieben ist.)
Aber nun holen die gegner der kleinschreibung zum hauptschlag aus. Da ist doch der Duden! rufen sie, das für alle menschen deutscher zunge verbindliche rechtschreibe-evangelium. Gewiß haben wir den Duden …*
* Hier zitierte G. M. aus dem Duden einige besonders verzwickte Regeln über Groß- oder Kleinschreibung
Wie einleuchtend und logisch ist dagegen die von uns angewandte regel: «Alle wörter sind grundsätzlich klein zu schreiben; große buchstaben sind nur bei satzanfängen und eigennamen zu verwenden.» Punktum!
Diese regel ist nicht etwa vom gemeinderat aufgestellt worden – sonst würde sie ja von vornherein nichts taugen –, sondern vom schweizerischen lehrerverein, der doch auch ein weniges von der sache verstehen wird. Der gemeinderat hat mit seinem beschluß nur die befolgung dieser regel angeordnet. Der beschluß ist auch nicht etwa mir nichts dir nichts gefaßt worden. Die erste anregung, die sache zu prüfen, stammt aus dem jahr 1930 und fällt zeitlich zusammen mit einer eingabe des schweizerischen lehrervereins an den bundesrat. Der gemeinderat hat auch nicht unterlassen, die schulen und lehrerkonvente der stadt Biel um ihre meinung anzugehen. Die antworten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Grundsätzlich sind alle ohne ausnahme für die kleinschreibung. Von einer befürchtung, Daß das deutsche sprachgut darunter leiden und geschmälert werden kÖnnte, keine spur.
So urteilen leute vom fach, denen wir nicht einfach die zuständigkeit mitzureden absprechen können wie dem dummen gemeinderat. Also war der gemeinderat doch nicht so ganz von gott und allen guten geistern verlassen, als er seinen beschluß faßte.
Wo die meinungen auseinandergehen und bedenken geäußert werden, beziehen sie sich nicht auf die kleinschreibung als solche, sondern auf den zwiespalt, der entsteht, weil die schule die großschreibung vorläufig beibehalten muß. Das kÖnnte in den köpfen der kinder verwirrung anrichten und müßte die schwierigkeiten der rechtschreibung – die ohnehin nicht gering sind – noch vermehren.
Es fällt uns nicht ein, diesen einwand wegzudisputieren. Wir sind uns auch durchaus im klaren darüber, Daß sich dieser zwiespalt nicht verewigen darf, das heißt, unsere gemeindeverwaltung kann auf die dauer nicht gegen schule und allgemeinen brauch bei der kleinschreibung beharren. Hier gibt es nur ein entweder-oder. Entweder macht die kleinschreibung fortschritte, ergreift weitere kreise oder dann wird die gemeindeverwaltung zur großschreibung zurückkehren müssen.
Man macht dem gemeinderat den vorwurf, er sei «zu früh aufgestanden» – aber gerade für eine behörde ist das kein todeswürdiges verbrechen.
Man hat auch versucht, die frage der kleinschreibung als läppische spielerei und längst abgetanen spuk, das vorgehen des gemeinderates als verspätete originalitätshascherei darzustellen. Wer so redet, scheint nicht zu wissen, Daß eine eingabe des schweizerischen lehrervereins über die vereinfachung der deutschen rechtschreibung beim bundesrat liegt, die als ersten und dringendsten schritt der notwendigen reform die rückkehr zur kleinschreibung postuliert …
Mit dieser eingabe fällt, wie schon gesagt, die anregung zur prüfung der frage der kleinschreibung in der gemeindeverwaltung zusammen. Sie sehen: der beschluß des gemeinderates ist nicht so ganz von ungefähr und zufällig gefaßt worden, sondern steht in zusammenhang mit einer längst im flusse befindlichen bewegung.
(Vorteile der kleinschreibung für die gemeindeverwaltung:
1. für alle, die mit der schreibmaschine arbeiten, hat die kleinschreibung nach kurzer übergangszeit eine merkliche erleichterung gebracht; rascheres schreiben, weniger fehler.
2. Viele unsicherheiten, die auch den kundigen oft zum nachschlagen im Duden nötigen, sind beseitigt; zeitersparnis.)
Schon jetzt darf es als unbestreitbar und bewiesen gelten, Daß die vorteile überwiegen. Man gewöhnt sich rasch an das veränderte schriftbild, das übrigens ausgeglichener, ruhiger wirkt.
Endlich: für das, was der gemeinderat zu sagen hat, glaubt er mit der kleinschreibung auszukommen – es ist weder so erhabenes noch so tiefsinniges, Daß es groß geschrieben werden müßte. Auch ist es besser, über dinge, die man versteht, klein zu schreiben, als groß über dinge, die man nicht versteht!
Natürlich hat sich der gemeinderat vorher auch gefragt, ob es einen zweck habe, die neuerung durchzuführen, bevor sich ein größerer verband für die kleinschreibung gebildet hatte. Denn wenn wir allein die kleinschreibung anwendeten, so hatte dies den nachteil, Daß eine doppelspurigkeit der rechtschreibung, ein widerspruch zwischen den ein- und den ausgehenden schriftstücken entstand. Wir sahen auch voraus, Daß wir auf widerstände stoßen würden – allerdings hatten wir eigentlich solche anderer art und von anderer seite erwartet.
Die stadtkanzlei hat zwei anträge gestellt (beide grundsätzlich für kleinschreibung):
1. Mit der einführung der kleinschreibung noch zuwarten, bis ein größerer verband (städteverband, kanton, bund) sich zu gleichzeitigem gemeinsamem vorgehen entschließt; denn nur so können sich die vorteile der kleinschreibung voll auswirken; oder:
2. Die kleinschreibung sofort einführen, weil nur so die reform vom flecke kommt, und dann gestützt auf die gemachten erfahrungen mit dem städteverband usw. verhandeln.
Der antrag auf sofortige einführung hat den vorzug erhalten in der richtigen erwägung, Daß man sonst überhaupt nicht weiterkomme.
Der gemeinderat verlangt nun weiter nichts als Daß man ihm noch eine gnaden- oder galgenfrist gewähre, um erfahrungen zu sammeln. Fallen sie ungünstig aus, so ist die sache erledigt, und wir kehren sang- und klanglos zur alten rechtschreibung zurück. Fallen sie günstig aus, so wollen wir sie dem städteverband usw. mitteilen und ihn anregen, dazu stellung zu nehmen. Wird unser vorschlag abgelehnt, so ist die sache auch für uns erledigt, und wir kehren trotz unsern guten erfahrungen zum alten zurück. Denn wir wissen, Daß wir keine rechtschreibe-insel bilden können, wollen es auch nicht. Gegen eine welt von narren kann ein kluger nicht aufkommen.
Also nochmals: Nur einen anregenden versuch, nicht mehr, hat der gemeinderat unternommen. Er wollte zu der umstrittenen frage der kleinschreibung einen praktischen beitrag liefern. Wem es wirklich und ehrlich um eine abklärung zu tun ist, wird darum den beschluß des gemeinderates weder als haupt- und staatsverbrechen brandmarken noch als unbeschreibliche dummheit lächerlich machen. Es geschehen bei uns und um uns herum dinge, wo die empörung und der aufwand an druckerschwärze berechtigter wären als bei der kleinen frage der kleinschreibung.
Ich wiederhole und schließe: Der gemeinderat verfolgte nichts anderes als die kleinschreibung für die verwaltung auszuprobieren; er verlangt nichts als Daß man ihm dazu zeit lasse. Bleiben die erhofften vorteile aus, oder zeigt sich, Daß es trotz den vorteilen nicht möglich ist, mit der kleinschreibung in größerem verbande durchzudringen, so wird der gemeinderat keinen augenblick länger zögern, wiederum als reuiger sünder zur allgemein geltenden rechtschreibung zurückzukehren.
S. 118, [fussnote] 19 (Zu Seite 71)
Siehe unten, Seite 288 ff. – Den ersten Anstoß zu dem Versuch mit der Kleinschreibung gab das Beispiel der Buchdruckerei Stämpfli & Cie. In Bern, die im März 1930 in einem Rundschreiben an ihre Geschäftsfreunde mitteilte, Daß sie fortan in ihrem Geschäftsverkehr die Kleinschreibung anwenden werde. An den Rand dieser Mitteilung schrieb G. M.:
Wie wäre es, wenn die stadt Biel auch hier mit voranginge? Die geschilderten vorteile treffen auch für den schreibverkehr der gemeinde zu.
18.8.30
GM
Wahrscheinlich wurde G. M. auch ermutigt durch die Erfahrungen, die er während 35 Jahren mit der Stenographie gemacht hatte. Die Stenographie kennt keine großen Buchstaben, aber es ist noch niemand eingefallen, ihr daraus einen Vorwurf zu machen. Die Tatsache, Daß die deutsche Stenographie seit mehr als hundert Jahren ohne großbuchstaben auskommt, beweist deutlich, wie überflüssig und unnötig die großschreibung der Hauptwörter ist.
Im September 1930 wurde die Stadtkanzlei beauftragt, «zu prüfen, ob diese Art der Rechtschreibung (d. h. die Kleinschreibung) sich auch für unsere Verwaltung zur Einführung empfehle». Die Gemeindeverwaltung führte die Kleinschreibung am 1.. Januar 1934 ein und kehrte am 1. Juli desselben Jahres wieder zur alten Rechtschreibung zurück.
Eine sachliche Diskussion wurde von allem Anfang vereitelt durch das Verhalten der Bieler Lokalpresse (Express, Bieler Tagblatt, Seeländer Volksstimme), die nichts versäumte, um die Neuerung in Verruf zu bringen. Gegnerische Einsendungen, sie mochten noch so töricht und gehässig sein, wurden bereitwillig aufgenommen, Zustimmung wurde fast ganz oder ganz unterdrückt. In welchen geistigen und moralischen Niederungen sich der Kampf gegen die Kleinschreibung abspielte, zeigen die von der Stadtkanzlei gesammelten Zeitungsausschnitte (im Stadtarchiv Biel unter Nr. 836/33). Auch nachdem der Gemeinderat erklärt hatte, Daß er die Kleinschreibung auf den 1. Juli 1934 aufheben wolle, setzten die Zeitungen ihr Gezeter und Gekeife beharrlich fort, so wie erboste Köter, wenn man sie beschwichtigen will, noch lange weiterkläffen.