Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Prospekt des 1876 gegründeten Vereins für vereinfachte Rechtschreibung.
[auszug]
Zweck und Ziel des Vereins.
Die herrschende Deutsche Schreibung bedarf, wie alle Sachkundigen wissen, auf das dringendste einer gründlichen Reform. Eine ſolche erstreben wir, indem wir folgende Grundſätze festhalten.
1) Wir wollen eine Rechtschreibung nach den Bedürfnissen des ganzen Volkes, nicht ein Schriftſystem für gelehrte Zwecke. Daher ſoll unſere Schreibung nur die Hauptlaute darstellen (ſolche, welche zum Begriffsausdrucke dienen), nicht alle vorhandenen Schattirungen, nicht alle Änderungen, welche die Laute beim Zuſammentreffen im Flusse der Rede erleiden. Wir schreiben demnach z. B. ich wie ach mit ch, Quelle und Schwelle wie Welle mit w (v), Enge und Enkel wie Ende mit n.
2) Wir wollen keine neue willkürlich erſonnene Rechtschreibung aufstellen, ſondern die Deutsche Hochsprache, deren Einheit wir unangetastet lassen, möglichst ſo schreiben, wie ſie bisher geschrieben worden ist. Die alte Schreibung ſoll vereinfacht und verbessert werden mittels folgerichtiger Durchführung der Geſetze, welche ſich bisher in der Deutschen Rechtschreibung entwickelt haben.
3) Wir befolgen den im Weſen aller Orthographie liegenden und auch von der amtlichen Deutschen Rechtschreibung an die Spitze gestellten Grundſatz: Bezeichne jeden Laut, den man bei richtiger und deutlicher Aussprache hört, durch das (eine) ihm zukommende Zeichen. Dieſen Grundſatz ſuchen wir durchzuführen, ſoweit die für eine allgemeine Volksorthographie nothwendige Rückſicht auf Einfachheit und Handlichkeit es gestattet und ſoweit nicht sprachliche Hindernisse im Wege stehen.
Aus dieſen Grundſätzen folgt:
a. Gebrauch des Buchstabens da, wo man den ihm entsprechenden Laut hört […].
b. Fortfall jeder Konſonantenverdoppelung in derſelben Silbe und Fortfall aller Dehnungsbuchstaben. […]
c. Fortfall der grossen Anfangsbuchstaben (ausser im Satzanfang und bei Eigennamen). […]
Anwendung der Neuorthographie.
[…] Darf die vereinfachte Rechtschreibung auch noch nicht im amtlichen Verkehre gebraucht werden, ſo ist es doch wünschenswert, ſie ausseramtlich anzuwenden. Eine bestimmte Verpflichtung hierzu legen wir aber niemandem auf: wer unſeren Zielen zustimmt, unſere Grundſätze gutheisst, ihre Durchführung anstrebt, dient unſerer Sache und ist uns als Mitglied wert und willkommen. Ob und wieweit er gleich unſere Schreibung perſönlich anzuwenden in der Lage ist, muss jeder ſelbst entscheiden.
Nutzen der Neuorthographie.
Di fereinfachte schreibung fereinfacht zugleich den schulunterricht. Erweislich werden dadurch dem schüler der folksschule hunderte fon stunden erspart, welche zu nüzlicheren gegenständen ferwant werden können. Auch ist di neuortografi jedem faslich, wärend di alte nur durch andauernde übung nach der im 14. oder 15. jare beendigten schulzeit erlernt werden kan, und deshalb fon der grosen merheit des Deutschen folkes, bei meist mangelnder gelegenheit, ni erlernt wird. Di brife der landleute, di rechnungen der handwerker u. a. legen dafon redendes zeugnis ab. Das durch den wegfal ſo filer föllig nuzloſer buchstaben beim schreiben auch zeit, beim drukken, z. b. bei zeitungsanzeigen, geld gespart, das telegrafiren und stenografiren erleichtert wird uſw., möge nur nebenbei erwänung finden, obwol es im praktischen leben gar schwer ins gewicht fält. Es werden jaraus jarein milliarden und aber milliarden zwekloſer buchstaben in Deutschland geschriben und gedrukt und damit unſummen geldes fergeudet. Man denke nur an di 1500 millionen brife und postkarten, di 500 millionen zeitungsnummern, di 17—18 000 bücher, welche järlich in Deutschland entsteen.
Kassel, am 1. Mai 1892. [11. Auflage: 15 000 Abzüge.] Dr. Edward Lohmeyer.