Ab Samstag gilt die neue Rechtschreibung - doch kaum einer wird dies bemerken: Denn am 1. August erscheinen keine Zeitungen, und auch am Montag werden die allermeisten Schweizer Titel noch in der herkömmlichen Schreibweise erscheinen. Die Umstellung braucht Zeit - nicht nur bei den Medien.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Aus presse und internet
1998-07-31
Das Institut für deutsche Sprache in Mannheim schätzt, dass 60 Prozent der Bevölkerung bisher «nicht richtig schreiben» konnten. […] Wer schreibt wie bisher, sagen Experten, macht nach neuen Regeln weniger Fehler als nach den alten, da vieles, was logisch ist, neu auch richtig ist. Dennoch lehnen laut einer «Polis»-Umfrage 84 Prozent der Deutschen die Rechtschreibreform ab. Dabei wissen 42 Prozent nicht einmal, was sie beinhaltet. […] In der Schweiz waren und sind Proteste selten.
1998-07-29
Zu den Auswirkungenden des Streits um die Rechtschreibreform wollte er [Hubertus Schenkel, Börsenvereins des Deutschen Buchhandels] "am liebsten gar nichts sagen". Die Verlage würden "nur sehr langsam" umstellen und die Klassiker ganz verschonen wollen: "Es gilt das Primat der Autoren."
Belastet hat natürlich auch die Diskussion um die Rechtschreibreform, die Verleger wie Konsumenten gleichermaßen verunsicherte.
1998-07-28
Ab 1. August gelten amtlich andere Rechtschreibregeln. Der "Brückenbauer" zeigt Ihnen das neue Schreiben in sieben Schritten.
Die Unterzeichner — darunter Günter Grass, Walter Jens, Siegfried Lenz, Martin Walser, Ilse Aichinger und Hans Magnus Enzensberger — begründen den Protest mit Mängeln im neuen Regelwerk.
Die Hoffnung der Kultusbürokratie, die Diskussion über die verpfuschte Rechtschreibreform nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts abwürgen zu können, hat getrogen. Erneut haben sich 30 Autoren an Politiker und Verleger gewandt und gefordert, das Projekt zu stoppen. […] Die "Rechtschreibung" ist de facto abgeschafft, weil die Einheitlichkeit der Schriftsprache aufgegeben wurde.
1998-07-25
Solms: Wir waren immer gegen eine von oben verordnete Rechtschreibreform. Die gleitende Anpassung an neue Schreib-Gewohnheiten durch den Duden-Verlag war doch praktikabel. Wir haben im Bundestag einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem wir die Bundesregierung auffordern, zu prüfen, ob die Rechtschreibreform in die Amtssprache des Bundes eingeführt werden muß. Wir sind der Meinung, das sollte nicht geschehen. Wenn wir das verhindern können, wird die Rechtschreibreform gescheitert sein, weil dann die Einheitlichkeit der Schriftsprache nicht mehr gegeben wäre.
1998-07-24
In jedem Fall ist das grausame Schicksal zu beklagen, das wohl für das "ß" zu befürchten ist, das sicherlich früher oder später gänzlich von Computer- und Schreibmaschinentastaturen verbannt werden wird.
Das schicksal hat die Schweiz schon vor 100 jahren ereilt. Als grausam wird es aber nicht empfunden. Schreibmaschinen, die einen wesentlichen anteil am schicksal hatten, sind heute kein problem mehr, und kompjuter führen eher zu einer wiederauferstehung.
Die Richter ziehen in ihrer Urteilsbegründung nur in Betracht, ob Texte "lesbar" bleiben (was niemand bestritten hat) und ob das Erlernen der deutschen Rechtschreibung erleichtert wird (was entgegen ihrer Einschätzung nicht der Fall ist). Gar nicht hingegen berücksichtigen sie den Haupteinwand: daß die Neuschreibung in zentralen Punkten gegen die Grundregeln der deutschen Sprache verstößt und in Tausenden von Fällen teils zu ungrammatischen Schreibungen zwingt […], teils Bedeutungsunterschiede verwischt, deren Kennzeichnung zum Stammkapital der modernen deutschen Orthographie gehört […]. Wenn das Gericht sich durch die vorgelegten linguistischen Analysen überfordert fühlte, hätte es das nahezu einhellige, allerdings vernichtende Urteil der deutschen Sprachwissenschaft nicht in den Wind schlagen und sich allein auf die Propagandaschriften der Reformbetreiber verlassen dürfen.
Mit der BVerfG-entscheidung vom dienstag wird also die "reform" der deutschen Rechtschreibung kommen, für mich ein "reförmchen".
1998-07-22
Seinem Ruf, ein Mann der klaren Worte zu sein, wurde Michael Naumann bei seiner ersten öffentlichen Präsentation gerecht. Der Ex-Chef des Rowohlt-Verlags, von SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder als Staatsminister für Kultur nominiert, machte aus seiner Ablehnung der Rechtschreibreform kein Hehl. Der Entscheidungsprozeß, der zur Reform geführt habe, sei ein "Beispiel für Ermüdungserscheinungen der Kulturpolitik". Er sei bisher davon ausgegangen, daß Änderungen in der Sprache von den Bürgern bestimmt werden.
Simonis: […] Die Rechtschreibreform ist kein isoliertes norddeutsches Thema, sondern ein gemeinsames Projekt aller Kultusminister, und ich hoffe sehr, daß der Volksentscheid vom 27. September Schleswig-Holstein eben nicht zu einer ,Insel der Rechtschreibung' werden läßt. Gesetzgeberische Maßnahmen gegen ein so zustande gekommenes Gesetz behält sich die Landesregierung vor.
1998-07-21
Wir bereiten eine Rechtschreibreform vor und lassen die Kinder verdummen […]. Statt zu finden, woran es liegt, daß Kinder heute schwerer lernen als früher, ist es natürlich einfacher, die Rechtschreibung dem "neuen" Lernvermögen anzupassen.
Man hätte die rechtschreibung schon früher dem "alten" lernvermögen anpassen müssen.
Das Bundesverfassungsgericht sah nicht oder wollte nicht sehen, daß die Einheitlichkeit der Rechtschreibung in den Ländern mit Deutsch als Staatssprache ein hohes Gut ist. Die Rechtschreibung wird im Grundgesetz nicht erwähnt, aber sie gehört ebenfalls zu den Grundlagen der Kultur. Wäre sie nicht normiert, würde das die schriftliche Kommunikation unzumutbar erschweren.
1998-07-20
Niemand hat diese Reform herbeigesehnt, aber sie gilt.
Was kann die Bürgerfreiheit im Deutschland kurz vor der Jahrtausendwende wirklich ernsthaft gefährden? Das Millionenheer der Arbeitslosen? Der große Lauschangriff oder der genetische Fingerabdruck? Was ist all das gegen das Ungeheuer der Rechtschreibreform!
Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rupert Scholz, sagte der "Welt am Sonntag" mit Blick auf einen geplanten Volksentscheid: "Wenn in Schleswig-Holstein erstmals der Bürger das Sagen hat, wie er denn schreiben möchte, bedeutet dies nichts Geringeres als den Beginn einer sprachlichen Gegenreformation, und zwar demokratisch legitimiert."
1998-07-18
Ohne den Streit um das ß verlöre der verbissene Kampf um die Rechtschreibreform ganz sicher einiges von seinem Schwung. Die neuen Bestimmungen um den Gebrauch von ß und ss sind buchstäblich der einzige Teil der neuen Regeln, der Texte schon auf den ersten Blick verändert. […] Wie fest wir in unserem Land zum ß stehen, fällt schon beim Blick auf die schriftlichen Zeugnisse unserer Schweizer Nachbarn auf. […] Schon 1938 haben die Schweizer diesen Buchstaben amtlich ausgerottet und das wohl nur, weil sie auch die Schreibmaschinen aus dem französischsprachigen Landesteil benutzen wollten. Das haben sich nicht einmal die Rechtschreibreformer getraut.
Im übrigen ist es nicht nur der Bund, der hier zentralisiert hat, sondern die früher elf, heute sechzehn Bundesländer selber sind weitgehend mitschuldig. Sie haben sich eine Institution geschaffen, die im Grundgesetz gar nicht vorgesehen ist, und die heißt KMK, Kultusministerkonferenz. Diese Kultusministerkonferenz nimmt für sich das Recht in Anspruch, alles gemeinsam zu regeln. Dann gehen diese Damen und Herren in ihre jeweiligen Landtage oder Kabinette zurück und erzählen dort, das und das haben die Kultusminister gemeinsam beschlossen. Infolgedessen müßt ihr das so machen und habt also gefälligst mal die Güte, das zu ratifizieren. Was diese Leute fertigbringen, das kann man an der Rechtschreibreform sehen. Wichtigtuerei!
1998-07-17
Die Rechtssicherheit hinsichtlich der Einführung der Schulorthographie sagt jedoch nichts über die Eignung der neuen Regeln für die Amts- und Gesetzessprache, für das gesamte öffentliche Publikationswesen und für den allgemeinen Schriftverkehr. […] Die Entscheidung über die künftige Praxis deutscher Rechtschreibung erfolgt nicht in den Amtsstuben der Ministerien; sie liegt bei allen, die Deutsch schreiben und lesen. Der Konflikt zwischen einem fragwürdigen Reformkonzept der Schulorthographie und der allgemeinen Rechtschreibpraxis, den die Kultusminister erzeugt haben, wird die Rechtschreibdebatte der kommenden Jahre beherrschen.
Heide Simonis: […] Natürlich hätten Regierung und Parlament ein Votum gegen die Reform zunächst zu akzeptieren. Allerdings sollten die Initiatoren des Volksentscheids wirklich noch einmal in sich gehen und nachdenken, ob sie ernsthaft eine sprachliche Insellösung für Schleswig-Holstein im Sinn haben.
Die NZZ ist der Meinung, dass in der viersprachigen Schweiz die Wortformen beispielsweise der italienischen oder der französischen Sprache ein besonderes Gewicht haben. Statt Schofför schreiben wir auch künftig Chauffeur und trotz der deutschen Endung auch chauffieren.
Chauffeur bleibt (zu unserem bedauern) unverändert.
Der Verband für interne Kommunikation, in dem 250 der größten österreichischen Betriebe versammelt sind, warnt vor den Kosten, die durch die Rechtschreibreform auf die heimische Wirtschaft zukommen.
1998-07-16
Die obersten Verfassungshüter Deutschlands wie Österreichs haben entschieden: Rechtschreibfragen sind keine Angelegenheit, die auf Verfassungsebene zu klären ist. […] Die Defizite der Rechtschreibreform liegen auf anderer Ebene: auf politischer, sprachlicher, pädagogischer, ökonomischer. […] Die zentrale Kritik richtet sich gegen die Überflüssigkeit der Reform. Bisher konnte dafür kein auch nur annähernd zwingender Grund genannt werden. […] Das wichtigste Argument aber, weshalb der Protest gegen die Rechtschreibreform auf Dauer Sinn hat: Sie ist zum Symbol für die österreichische (und deutsche) Hauptkrankheit geworden, nämlich für eine krankhafte Überregulierung. […] Aus diesem Grund ist jeder Tag, an dem der Bürgerprotest gegen bürokratischen Übermut und der Boykott fast aller wichtigen Schriftsteller und Verlage andauern, selbst dann ein Gewinn, wenn die (durch die Proteste zum Glück ja auf ein Minimum abgemagerte) Rechtschreibreform sich im Lauf der Zeit doch durchsetzen sollte. Denn der Protest wird abschreckende Wirkung auf die Politiker haben: Sie werden künftig deutlich länger nachdenken, bevor sie sich von ihren Beamten verleiten lassen, sich mit überflüssigem Herumreformieren erneut die Finger zu verbrennen.
1998-07-15
Mit dem Urteil der Karlsruher Richter kann die umstrittene Rechtschreibreform definitiv am 1. August eingeführt werden.
Sie darf nun in deutschen Schulen gelehrt werden, die umstrittene Schreibreform. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden. […] In der Schweiz hat die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren den deutschen Richterspruch «mit Dankbarkeit» zur Kenntnis genommen. […] Einheitliche Schreibung müsse zwar sein — aber dies bedeute «nicht notwendig Übereinstimmung in allen Einzelheiten». Die Reform als quantité négligeable? Das ist nach dem erbitterten Streit dann doch eine Überraschung.
Die Rechtschreibreform wirft in der Schweiz keine so hohen Wellen wie in Deutschland. […] Die Bundesverwaltung hat, gestützt auf die zwischenstaatliche Erklärung und abgestimmt auf die Schulen, den 1. August dieses Jahres zum Stichtag bestimmt.
Man kann das Karlsruher Urteil vernünftig nennen und braucht doch den Gegnern den Respekt nicht zu versagen, den sie verdienen. […] Sprache ist ein Schutzgut, aber kein unantastbares Grundrecht. Im Schutzgut Sprache ist auch ihre Wandlungsfähigkeit geschützt und muss auch ihre Wandlungsmöglichkeit geschützt sein.
Ohne weitere Auflagen, ja geradezu triumphal ist die Politik der Rechtschreibereformer aus dem Karlsruher Verfahren hervorgegangen. Die Verfassungsbeschwerde eines Lübecker Elternpaares, das seine Kinder nicht nach den neuen Regeln unterrichten lassen wollte, wurde als unbegründet zurückgewiesen. Grundrechte seien nicht verletzt, erklärte das höchste deutsche Gericht bei seiner Urteilsverkündung am gestrigen Dienstag. […] Dank Karlsruhe herrscht nun Rechtssicherheit: Das Urteil des BVG bindet jedes andere deutsche Gericht; die noch ausstehenden Verfahren verlaufen daher in vorgezeichneten Bahnen.
Es sind nicht die Regeln, weder die alten noch die neuen, die ein Chaos provozieren. Verantwortlich für den Niedergang der Rechtschreibung ist vielmehr der Mangel an Bereitschaft, sich an Regeln zu halten oder sie überhaupt zu lernen. Der Streit über die Rechtschreibung lenkt vom eigentlichen Skandal ab: Immer mehr Schüler beherrschen die Grammatik nicht; sogar mancher Gymnasiast kann keine vollständigen, logisch gegliederten Sätze bilden. Wer sich nicht präzise und differenziert ausdrücken kann, wird aber auch in der Entwicklung seiner Denkfähigkeit zurückbleiben - das ist die Gefahr, und dagegen hilft nur: Lesen, Schreiben, Üben.
In solchen Fällen müsse im "öffentlichen Interesse" zur Sache entschieden werden, weil es um grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen gehe und die "erstrebte Entscheidung Klarheit über die Rechtslage schaffen wird". Ein Ziel, daß die Richter erreicht haben. Die rechtlichen Probleme der Reform sind auch mit Blick auf den in Schleswig-Holstein anstehenden Bürgerentscheid gelöst.
Weil der Streit um die Reform Volksbegehren verursachte und schließlich beim höchsten Gericht endete, darf er aber auch als Lehrstück gelten über die Befindlichkeit einer Gesellschaft. Sicherlich ist es gut, wenn Menschen sich nicht alles vorschreiben lassen, wenn sie auch Expertenurteile anzweifeln. Doch was lassen sie im Gegensatz zur Rechtschreibreform nicht alles klaglos zu? Und ausgerechnet um diese kleine Reform zu verhindern, greifen sie zum stärksten demokratischen Mittel, dem Volksbegehren, und ziehen vor die Gerichte. Fängt das demokratische Empfinden bei der Kommasetzung an?
Der Weilheimer Studienrat Friedrich Denk, der den Widerstand gegen die neuen Regeln hauptsächlich organisiert hatte, erwartet, daß die Bevölkerung sich den neuen Schreibweisen nicht unterwerfen wird. Der Kieler Sprecher der Reformgegner, Wolfgang Deppert, bezeichnete das Urteil als eine "demokratische Katastrophe".
Nein, das war er leider nicht, der endgültige juristische Schlußstrich unter den jahrelangen Streit um die Rechtschreibreform. […] Bemerkenswerter als die Frage, wie denn die eine oder andere Schreibregelung zu bewerten sei, ist freilich das Schlaglicht, das der Streit um Buchstaben auf die politische Kultur in unserem Lande geworfen hat. Er hat die deutsche Unfähigkeit zum Dialog jenseits der Gerichtssäle auf deprimierende Weise offenbart. Das liegt vor allem am Kreuzrittertum der Reformgegner, aber auch an der Trotzigkeit der Kultusminister.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich […] aus der engeren Materie der Orthographie herausgehalten. Völlig abstinent ist es dabei dennoch nicht geblieben […]. Es gebe zwar […] im Interesse einer funktionierenden Kommunikation das Erfordernis einer hochgradig einheitlichen Schreibung. Das bedinge aber keine Übereinstimmung bis ins letzte Detail, und schon gar nicht habe das Ausscheren eines einzelnen zur Folge, daß die Konvention aller Übrigen hinfällig sei – vorausgesetzt immer, die Kommunikation ”im gemeinsamen Sprachraum” ist weiterhin gesichert. Gemessen an der Wertschätzung, die Rechtschreibdinge hier genießen, haben die Richter sich weit aus dem Fenster gelehnt. Immerhin kann diese Stelle auch als kaum verkappter Aufruf zu mehr orthographischem Laisser-faire verstanden werden – Pessimisten würden sagen: zu mehr Wurstigkeit.
Vermuten läßt sich lediglich, daß die wirklichen Probleme dieser Gesellschaft zu komplex sind, um noch wahren Streit auszulösen, weshalb wir uns gerne mit volkstümlichen Schaumwogen bescheiden bei Themen, bei denen jeder mitreden kann.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Einführung der Rechtschreibreform für Rechtens erklärt. […] Damit ist genau das eingetreten, was nach allen Beteuerungen der Politiker vermieden werden sollte: Die Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache ist nur noch eine Fiktion. Das letzte Wort werden hierzu die Schleswig-Holsteiner sprechen.
Der völlig unbeabsichtigte, aber um so wirksamere Effekt des deutschen Rechtschreibkrieges war allerdings die befreiende Entdeckung des "tertium datur". Wenn man ein Wort so und anders schreiben darf, vielleicht gibt es dann auch eine dritte, meine eigene Möglichkeit - immer vorausgesetzt, daß der Text lesbar bleibt.
Die kleinschreibung der substantive!
Hübsch formalistisch haben Deutschlands oberste Verfassungshüter den Kultusministern der deutschen Länder zugebilligt, daß sie per Federstrich […] die Schreibregeln der deutschen Sprache ändern dürfen. […] Ein Blick zurück in die Schreckensgeschichte unseres Jahrhunderts — und gerade in die deutsche — lehrt: Verwaltungsinstanzen sind weder vor Unsinn noch vor Inhumanität gefeit. […] Die Rechtschreibreform ist keine Reform, sondern ein ziemlich unnötiges Reformerl — und ein Pflanz für alle jene, die mit (linkem) emanzipatorischem Pathos in den siebziger Jahren Schreibregeln erkämpfen wollten, mit denen möglichst viele Menschen sich sicher fühlen vor Blamage (und einem schlechten Eindruck bei Bewerbungen).
Reaktionen zum Schreib-Urteil […] Unterrichtsministerin Gehrer meinte, nun sei "endgültig klargestellt, daß man für eine Rechtschreibreform kein Gesetz braucht". In der Schule habe man sich künftig an die neue Schreibung zu halten. Ob der einzelne Bürger die neuen Regeln beherzige, bleibe ihm überlassen: "Ich kann ja niemanden bestrafen, der falsch schreibt". […] Guido Westerwelle, FDP-Generalsekretär: "Die Rechtschreibung ist verfassungsgemäß - bleibt aber überflüssig. Eine Kultusministerkonferenz, die die Frage, ob man Schiffahrt mit zwei oder drei ,f' schreibt, wichtiger findet als die Verkürzung der Ausbildungszeiten, müßte zugunsten von mehr Autonomie der Bildungseinrichtungen entmachtet werden".
1998-07-14
Der einzige juristische Protest gegen die Rechtschreibreform kam von der Schweizer Autopartei. […] Warum reagieren die Schweizer so gelassen auf die Reform? "Die neue Schreibweise fällt bei uns optisch so gut wie nicht auf", betont Gallmann, Sprachwissenschaftler an der Universität Zürich. Er verweist darauf, daß die deutschsprachigen Eidgenossen das ß nicht kennen.
Heute entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Rechtschreibreform. Über Rechthaber, Eindeutigkeit, Kontingenz und die abhanden gekommenen Kläger - zum Subtext einer deutschen Debatte. […] Tatsächlich geht es im deutschen Rechtschreibkrieg gar nicht nur um Orthographie. Es geht ums Aufbrechen mentaler Orthodoxie. An die Stelle von striktem richtig oder falsch tritt das Wörtchen "und". In einem Aufsatz mit dem merkwürdigen Titel "Und" fragte bereits der abstrakte Maler Wassily Kandinsky nach dem Wort, das das 20. Jahrhundert vom 19. Jahrhundert unterscheidet. Es sei das Wort "und", das an die Stelle der zweiwertigen Logik von "ja - nein" und der Moral "ich oder du" tritt. Wie wir wissen, hat das 20. Jahrhundert das Entweder-oder-Denken noch einmal blutig radikalisiert. Vielleicht gelingt es ja nun im Übergang zum 21. Jahrhundert, dem "und" die Ehre zu verschaffen?
1998-07-12
Peter Eisenberg, 58, Linguist in Potsdam, Mitglied der Mannheimer Rechtschreibkommission und Gegner der beschlossenen Reform, zur orthographischen Zukunft der deutschen Sprache. […] Eisenberg: Aber die Reformer wollten eben auch bisher wohlweislich Ungeregeltes regeln, etwa große Teile der Getrennt- und Zusammenschreibung oder der Groß- und Kleinschreibung. Dabei gibt es doch immer Bewegung und Entwicklung in der Sprache. Schreibunsicherheiten zeigen nur diese Bewegung. Die verordnete Regelung kann sich gar nicht durchsetzen.
1998-07-11
Am Dienstag wird das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung zur Rechtschreibreform verkünden […]. Aus Bonn hatte es Vorabmeldungen über ein Scheitern der Klage gegeben. […] Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) nimmt im Gespräch mit Helmut Kerscher das Gericht in Schutz. Die einen suchen die Schuld an Vorab-Berichten beim Gericht, die anderen mehr bei den Medien. Wen kritisieren Sie? Schmidt-Jortzig: Jedenfalls nicht das Gericht. Mir mißfällt das Verhalten der Beschwerdeführer samt Begleitpersonen, namentlich des Herrn Dräger.
1998-07-09
«Schlechte Verlierer.» Der Vorwurf, mit dem sich die deutsche Fussballnationalmannschaft nach ihrem Ausscheiden bei der WM 98 und anschliessenden kläglichen Schuldzuweisungen an den Schiedsrichter konfrontiert sah, trifft nun auch die Gegner der Rechtschreibreform, die ihre Verfassungsbeschwerde eine Woche vor der Karlsruher Urteilsverkündung zurückgezogen haben. Bezeichnend ist, dass der Prozessbevollmächtigte Rolf Gröschner sein Mandat niedergelegt hat. Dem in Jena lehrenden Staatsrechtler ist offenbar die Taktik zuwider, mit der seine Kollegen und Mandanten einem für sie nachteiligen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts (BVG) ausweichen wollten.
Wenn die in der Öffentlichkeit kursierenden Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes zur Rechtschreibreform richtig wiedergegeben sind, dann droht der deutschen Sprachgemeinschaft ein richterlich sanktionierter Bruch mit 1000 Jahren Kulturgeschichte. […] Mit Reformen verbindet man gemeinhin den Fortschritt zu Höherem, zu einem Entwicklungsschritt. Die kleine Gruppe von Wissenschaftlern, die — isoliert von ihrer gesamten Fachzunft — eine neue deutsche Schriftsprache einführen will, bezweckt genau das Gegenteil: Simplifizierung. […] Die überwiegende Zahl "neuer" Regeln ist nahezu wörtlich aus einem Elaborat übernommen, mit dem schon einmal eine deutsche Obrigkeit das Sprachvolk gegen Sprachgebrauch und Sitte disziplinieren wollte: dem "Erlaß" des nationalsozialistisches Reichsministers Rust von 1944.
1998-07-08
Mit einem überraschenden Schritt haben die Gegner der deutschen Rechtschreibreform ihre Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zurückgezogen. […] Der Schritt der Lübecker Kläger ist nicht ganz frei von Rätseln.
Verwirrung total in Sachen Rechtschreibreform: Da wird eine Verfassungsbeschwerde zurückgezogen, das Gericht urteilt aber trotzdem, der Kieler Landtag spricht sich für einen Volksentscheid im September aus, will aber das Urteil abwarten. […] Gesetzt den Fall, die Nordlichter entscheiden im September, daß auch künftig in den Schulen nach der bisherigen Rechtschreibung unterrichtet wird, dann bliebe der "Delfin" im Norden ein "Delphin" und hätte tatsächlich plötzlich ein letztes Reservat zum Überleben. Einen orthographischen Nationalpark sozusagen.
Dass so ein schnöder Gegenstand wie die Orthografie überhaupt die Gemüter erhitzen konnte, ist schon verwunderlich. […] Über die komplizierte deutsche Schreibweise wurde schon immer geklagt. Es wird wohl nie eine Orthografie geben, der alle zustimmen. Auch die ab 1. August gültige Reform hat ein Manko: Sie geht nicht weit genug.
Nicht die Bundesrichter, sondern die Schleswig-Holsteiner werden — stellvertretend für die Bevölkerung in allen anderen Bundesländern — über das künftige Schriftdeutsch zu befinden haben. Sie brauchen dafür nur das, was vielen Amtsträgern abhanden gekommen ist: gesunden Menschenverstand.
1998-07-06
Leserbrief zu Karl Bolli: «Nicht alle können rechnen und schreiben», «Forum» Nr. 144. Die neue Art zu schreiben, sei halt wesentlich einfacher, sagt man mir. Kann mir bitte einmal jemand plausibel erklären, weshalb alles den Weg des geringsten Widerstandes gehen und warum für die «lieben Kleinen» alles simplifiziert werden muss?
Wir können es plausibel erklären: "Die neue Art zu schreiben[kein komma] sei halt wesentlich einfacher". Oder allenfalls als einschub "Die neue Art[,] zu schreiben, sei halt wesentlich einfacher".
1998-07
Mit dem Beitrag »Die Rechtschreibreform in der öffentlichen Meinung« von Prof. Dr. Werner Eroms aus Passau begann der dritte und letzte Veranstaltungstag. […] Bei den Sprecherinnen und Sprechern beobachtete Eroms eine linguistische Bewertung der Reform in der Weise, daß die Regelung der Schreibung als eine der Sprache empfunden werde, was sie aber keinesfalls sei.
1998-06-26
Mir scheint, die wachsende Neigung, einen Kunstobmann zu installieren, basiert auf der tiefinnerlichen deutschen Sehnsucht, alles und jedes zu regulieren, zu ordnen und zu verwalten. Bisher konnten nur die bundesländlichen Kultusminister in die Kultur hineinpfuschen und sich lächerlich machen: Siehe "Rechtschreibreform". Gemeinsam gebaren die Herren und Damen einen teuren, allzuteuren Homunculus, der wenig lebensfähig ist. Solche Pleite kann man natürlich auch in anderen, übergreifenden Bereichen anzetteln.
1998-06-24
Mit dieser Neuen Rechtschreibung haben noch viele Leute, die die Sprache und die Rechtschreibung in ihrem Beruf anwenden müssen, Schwierigkeiten. […] Auch hier will die Schule für Erwachsene einen Beitrag leisten und bietet ab August 1998 einen entsprechenden Kurs in der Neuen Rechtschreibung an.
1998-06-06
Nun ruhen die Hoffnungen der Gegner der Rechtschreibreform in Deutschland auf Schleswig-Holstein. Dort hat die Initiative «Wir gegen die Rechtschreibreform» weit mehr als die erforderlichen 106 000 Unterschriften gesammelt und damit die letzte Stufe des plebiszitären Verfahrens erzwungen: den Volksentscheid.
1998-06-04
Doch Lehrer und Schüler befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis. In der Öffentlichkeit schweigen die meisten Lehrer […]. Das ängstliche Schweigen der Lehrer und Schüler nennt Kultusministerin Gisela Böhrk "Akzeptanz". Tatsächlich aber leisten viele Lehrer passiven Widerstand, indem sie zum Beispiel bei Korrekturen weniger Fehler anstreichen, weil ja zwei verschiedene Rechtschreibungen gelten. Sie schlagen auch nicht in den zehn verschiedenen Wörterbüchern und im schwierigen Regelwerk nach, sondern allenfalls im Duden.
Aber wie immer der Volksentscheid nun ausgehen wird, das enge Orthographie-Korsett ist aufgeschnürt. Bei diesem Zivilisationsgewinn wird es bleiben. 30 Gerichte wurden bemüht, und siehe, alle entscheiden etwas anders. So hat der Streit der Rechtschreiber, Rechthaber und Rechtsprecher etwas nicht Beabsichtigtes bewirkt: Der Heiligenschein der einen Rechtschreibung ist dahin. Vor 100 Jahren verlangten Lehrer und Drucker nach eindeutiger Schreibweise und bekamen sie. Jetzt löst sich diese Eindeutigkeit wieder auf. Das Jahrhundert der Disziplin, der Stechuhr und des Rotstifts läuft aus.
1998-05-30
Brauchen wir ein Bundeskulturministerium? Gespräch mit der Grünen-Politikerin Antje Vollmer über Kultur und Föderalismus nach 1989, europäische Interessenvertretung und das Menschenrecht auf Stiftungsgründung. […] Antje Vollmer: Wenn man mal schaut, wo die großen, bundesweiten Debatten stattgefunden haben, dann ging es in den meisten Fällen um kulturelle Fragen, die nicht in Länderkompetenz liegen. Ob das nun die Gestaltung der Neuen Wache war, die Rechtschreibreform, das Holocaust-Mahnmal, oder, am Anfang der Ära Kohl, das Haus der Geschichte. In diesem Entscheidungsvakuum hat sich am Ende immer der Kanzler mit einem kulturpolitischen Machtwort durchgesetzt. Und das ist das Problem: Wenn eine neue Aufgabe entsteht, greift irgend jemand zu. Das ist nicht gerade das Niveau, auf dem sich die kulturpolitische Diskussion bewegen sollte.
1998-05-29
[…] die erdrückende Fülle englischsprachiger Bezeichnungen auf Werbeschildern, Läden, Cafés und Restaurants […] im Zentrum einer «typisch» deutschen Kleinstadt […]. Angesichts der kaum zu übersehenden Alleinherrschaft des Englischen im urbanen Erscheinungsbild ihrer Umgebung fragen sich die staunenden [(von einem hintersinnigen Karikaturisten erdachten und verdutzt dreinschauenden)] Senioren schliesslich, wozu das Deutsche eigentlich noch einer Rechtschreibereform bedürfe.
Bereits 1941 verbot Hitler die deutsche Schrift […]. Danach ließ er von seinem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, eine Rechtschreibreform durchführen. Die Rechtschreibreform des Dritten Reiches aus dem Jahre 1944 ist den ursprünglichen Entwürfen der heutigen Reform verblüffend ähnlich […].
Nein, er liess sie eben nicht durchführen. Stellungnahme.
In der Tat möchten die Kultusminister mit ihrer "Neuregelung" in nahezu allen Fällen bisherige Schreibungen als angeblich fehlerhaft verbieten und dafür andere, meist schlechtere anordnen. Damit scheren sie aus der seit 100 Jahren bewährten einheitlichen Schreibung aus und bringen alle, die deutsch schreiben, in eine Zwangslage. 80 Millionen müßten sich, zum Teil immer wieder, zwischen dem angeblich überholten "daß" der Sprachgemeinschaft und dem angeblich progressiven "dass" der Kultusbürokratie entscheiden.
Es sind höchstens 40 millionen; der rest hat schon mit der «bewährten» schreibung ein problem: schreibkompetenz.
Die Rechtschreibreform greift nicht nur in die Schulsprache, sondern auch in die Rechts-, Gesetzes-, Amts- und Wirtschaftssprache ein. Weshalb bleibt das Bundesverwaltungsgericht bei solch einem wesentlichen Eingriff untätig und wartet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ab, anstatt selbst die Rechtschreibreform zu stoppen?
Man kann nur darüber staunen, mit welcher Hartnäckigkeit das Märchen von der Schreiberleichterung unablässig wiederholt und allen Leuten, jetzt sogar den Verfassungsrichtern, eingehämmert wird. Von einer Erleichterung ist nämlich, im ganzen gesehen, keine Spur zu entdecken.
1998-05-26
Im Juni wird sich der Verfassungsgerichtshof mit vier Beschwerden gegen die neue Rechtschreibung befassen. Sie dürften aus formalen Gründen scheitern. […] Die vier VfGH-Anträge eines Geschwisterpaars aus Zell am See, einer Wiener Gymnasiastin, einer oberösterreichischen Volksschülerin und eines Beamten, der als Pensionist Nachhilfeunterricht erteilt, argumentieren so: Die Reform hätte wegen des Legalitätsprinzips einer gesetzlichen Grundlage bedurft, und sie verstoße gegen Artikel 8 der Bundes-Verfassung, der die deutsche Sprache als Staatssprache festlegt — und zwar in der bestehenden, sich nur durch den ständigen Gebrauch wandelnden Form.
1998-05-21
Das Gros der Briefeschreiber (57 Prozent) ist gegen die Rechtschreibreform. Einer von ihnen meint: "Du mußt sofort die Rechtschreibreform stoppen, sonst streiken wir Schüler und schreiben grundsätzlich, wie es uns gerade einfällt. Zum Beispiel: Liper dikker Kannstler Koool. Du müssteßt direckt ferhienderen, daßß wier fallch schreipen."
1998-05-18
Was meinen Sie? Die neue Rechtschreibreform … … sollte völlig gestoppt werden: 57 %, … sollte noch mal überarbeitet werden: 21 %, … sollte wie geplant in Kraft treten: 17 %. Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 12.–13. Mai.
1998-05-14
Man kann mit guten Gründen der Meinung sein, es sei grober Unfug, das höchste deutsche Gericht überhaupt mit der Frage zu befassen, ob sitzenbleiben künftig immer auseinander geschrieben werden und bei den Kommaregeln etwas freier verfahren werden dürfe. […] Ein Rechtschreibtest bei erwachsenen Deutschen kam zu dem Ergebnis, dass fast die Hälfte nur die Noten «mangelhaft» oder «ungenügend» verdienten. […] Ein unübersichtlich gewordenes Regelwerk vorsichtig zu beschneiden mag auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht ganz ungerechtfertigt sein. Und der Rechtsberater der Bundesregierung präsentierte den Richtern gar noch einen Grundrechtsparagraphen, auf den sich der staatliche Eingriff berufen darf. Es ist Artikel 7,1: «Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.»
Die Schweiz wird unabhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Juli die Rechtschreibreform wie geplant Anfang August einführen. Eine noch längere Verunsicherung der Bürger sei nicht zumutbar, sagte der Leiter des deutschen Sprachdienstes in der Schweizer Bundeskanzlei, Hauck.
1998-05-13
Eine seriöse, sprich: sachliche Debatte hat im Grunde nie stattgefunden, obwohl manche Ungereimtheit der Reformvorschläge sie durchaus erlaubt hätte. Aber Voraussetzung solcher Sachlichkeit wäre die Einsicht, daß Orthografie und Interpunktion nichts anderes sind als eine künstliche Übereinkunft. Wie man die Sprache aufschreibt, hat mit ihr selbst im Grunde nichts zu tun.
Das Gericht hatte die Creme der Experten geladen, wobei ein Großteil von ihnen auch beim Streit um die Rechtschreibreform seit Jahren an vorderster Front steht. In dieser Arena war ihnen das gewohnte Hauen und Stechen naturgemäß untersagt, so daß man sehen konnte, welch zierlicher Umgangsformen die Kämpen bei Bedarf fähig sind. […] Für die Kultusministerkonferenz trat deren Präsidentin Anke Brunn, die nordrhein-westfälische Wissenschafts- und Forschungsministerin, in den Ring. Sie verwies darauf, daß die Reform in einem offenen, demokratischen Verfahren auf den Weg gebracht worden sei. […] Christian Meier schien überhaupt für eine kleine Weile nicht ganz Herr seines ansonsten gerühmten Feinsinns zu sein. Wie sonst hätte es ihm unterlaufen können, die gegen Ende der Nazizeit angeleierte Rechtschreibreform, den ”Rustschen Erlaß” von 1944, mit der nunmehrigen Orthographiereform in Verbindung zu bringen. Frau Brunn sah sich zu einer Intervention genötigt, die ihr vom Senat denn auch nicht verwehrt wurde.
Das Bundesverfassungsgericht verhandelte gestern über die Klage eines Ehepaares gegen die neuen Schreibregeln. […] Thomas Elsner und Gunda Diercks-Elsner wollen verhindern, daß ihre beiden 9jährigen Söhne, die Zwillinge Hinrich und Christoph, nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet werden. […] Juristisch wird vor allem mit dem Elternrecht argumentiert. Kritisiert wird, daß Eltern ihre Kinder beim Erlernen der deutschen Sprache "nicht mehr begleiten" könnten. "Schon der Zwang, ständig im Wörterbuch nachsehen zu müssen, ob sich etwas geändert hat, ist unzumutbar", so Anwalt Schüller. Im Grundsatz lehnen die Kläger eine staatliche Sprachkompetenz rundweg ab. "Der Staat darf Geldmünzen prägen, aber nicht die Schreibweise eines Volkes", postulierte Professor Gröschner. Zumindest aber hätte die Neuerung nur per Gesetz eingeführt werden dürfen und nicht - wie in allen Bundesländern geschehen - als Verwaltungsvorschrift. […] Gleich zu Beginn der Verhandlung wies Hans-Jürgen Papier, der neue Vorsitzende des Ersten Senats, darauf hin, das Gericht werde nicht in "linguistische oder gar sprachästhetische Fachstreitigkeiten" eingreifen, sondern sich vor allem auf Zuständigkeits- und Verfahrensfragen konzentrieren.
1998-05-12
Über die Grenzen der Demokratie mußte man sich im Jahr 1901 keine Gedanken machen. Allerdings stritten schon damals Fachleute über die richtige Rechtschreibung. Ergebnis: Die Staatliche Orthographie-Konferenz fällte mehrere Beschlüsse, die für die Schulen per Erlaß verbindlich gemacht wurden. Damals regte sich niemand über diese Vorgehensweise auf.
Bei einigen Entscheidungen haben sich die Karlsruher Richter viel Zeit gelassen, über drei Jahre zum Beispiel dafür, daß sie über das saarländische Presserecht nicht befinden wollten. Hoffen wir, daß sie diesmal schnell entscheiden und dem Spuk um die Rechtschreib-Reform ein Ende setzen.
1998-05-11
Der Kernpunkt der Kritik ist die Frage nach der Legitimation der Kultusbürokratie, die neuen Rechtschreibregeln kurzerhand auf dem Verordnungswege und insbesondere zwei Jahr vor dem vereinbarten Termin in den Schulen einzuführen.
1998-05-08
Ein Ende Streit um die Rechtschreibreform erhoffen sich Gegner und Befürworter der neuen Schreibregeln von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Am Dienstag nächster Woche wird der Erste Senat öffentlich über das Reformwerk verhandeln, das zum 1. August eingeführt werden soll, in vielen Schulen aber schon seit dem vergangenen Jahr gilt. Die Richter haben über die Verfassungsbeschwerde eines Lübecker Elternpaares zu entscheiden, das seine beiden schulpflichtigen Kinder in der bisherigen Schreibweise unterrichtet wissen möchte, entsprechende Eilanträge waren vom Verwaltungsgericht Schleswig und dem Oberverwaltungsgericht Schleswig zurückgewiesen worden.
1998-05-06
Zu einem vielbeachteten Vortrag von Klaus Heller am 4. 5. in Halle an der Saale.
1998-05-02
Man mag es schon nicht mehr hören: Rechtschreibreform. Mit dieser Abnutzung des Interesses rechnen die Kultusminister, die nichts anderes im Sinn haben, als die Neuregelung durchzusetzen — Augen zu und durch.
1998-04-30
Zum Abschluß der Aktion trat Dräger gestern mit einer Reihe nahmhafter Kieler Professoren auf. […] Der Germanist Prof. Hubertus Menke registriert unter Kollegen Empörung.
Indem Löwer marginale Erscheinungen, über die zum Teil verschiedene Meinungen möglich sind, in den Vordergrund stellt und die fundamentale Kritik an zentralen Entscheidungen der Reform kaum oder gar nicht erwähnt, gerät die Tatsache aus dem Blick, daß das neue Regelwerk in zentralen Bereichen fehlerhaft und widersprüchlich, seine praktische Umsetzung daher a limine ausgeschlossen ist. […] Mit ihren willkürlichen Eingriffen zerstört die Reform die Grundlage der schriftsprachlichen Bildung.
1998-04-08
(Vorspannn der redaktion:) Die Reform der deutschen Orthographie ist primär aus sprachlichen und praktischen Gründen umstritten. In Deutschland hat sich die Auseinandersetzung auf die rechtliche Frage verlagert, welches Organ für den Entscheid kompetent sei. Auf einer grundsätzlicheren Ebene zweifelt der Autor des folgenden Diskussionsbeitrags daran, dass es einem freiheitlichen Staat überhaupt zustehe, die Sprache zu verändern, statt deren Entwicklung nur nachzuvollziehen. […] Es ist nicht Aufgabe von Erziehungsdirektoren, die Sprache unseres Volks durch Schulunterricht zu ändern. […] Die neue Regelung ersetze «jene von 1902 und die anschliessenden Ergänzungsverordnungen», Regelungen also, die es in der Schweiz nicht gegeben hat.
Das muss wohl so verstanden werden, dass der duden in der Schweiz weniger verankert sei als in Deutschland. Das gegenteil ist der fall seit 1892! Siehe stellungnahme des BVR.
1998-04-04
55 Linguistik-Professoren haben mit ihren Unterschriften ihren Protest gegen die "wissenschaftlich unhaltbare" Rechtschreibreform bekräftigt.
1998-04-02
Joachim Kaiser, deutscher Kulturkritiker, attackiert die deutschen Kultusminister wegen der Schreibreform. Ein "Kollektiv-Versagen sämtlicher Kultusminister gegenüber den Absurditäten, die sie — ohnehin wahrscheinlich nur halbüberzeugt — mit ihrer Rechtschreibreform geschaffen haben", konstatierte der deutsche Kulturkritiker Joachim Kaiser in der "Süddeutschen Zeitung" gestern, Mittwoch.
1998-04
Unter diesem ironischen Titel überprüfen Kerstin Günthert und Klaus Heller vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim in einem Aufsatz in der Zeitschrift «Muttersprache» (4/97) den Hauptvorwurf der Gegner der neuen Rechtschreibung: deren Regeln seien unklar, und das habe bereits in den verschiedenen Wörterbüchern zu «Tausenden» von verschiedenen Auslegungen geführt. […] Die Differenzen sind also weder so schwerwiegend noch so zahlreich wie die Gegner der Rechtschreibreform behaupten, und vor allem können sie zum grossen Teil überhaupt nicht der neuen Regelung angelastet werden.
Daß die Medienschlacht um das Reformwerk mit allen Tricks der massendemokratischen Propaganda, mit harten Bandagen und durchwegs ohne Sachkenntnis geschlagen wird, war mir bewußt. Bestürzend und neu ist es dagegen, den Formeln und Motiven dieser unsachlichen Debatte im Gewande juristischer Expertise zu begegnen. […] Die Kernthese der Autors, es handele sich um eine »Sprachreform«, nicht um eine »Rechtschreibreform«, ist völlig unhaltbar.
1998-03-28
Der Bundestag hat sich in einem flaumweichen Beschluß von der Einführung der neuen Rechtschreibung bei den Bundesbehörden distanziert. […] Die weiteren Entscheidungen liegen bei der Bundesregierung, beim Bundesverfassungsgericht und bei Volksentscheiden. Quälender kann ein Verfahrensgang nicht sein, an dessen Ende nur eins stehen kann: das Ende der Reform.
Der deutsche Bundestag fällte am Donnerstag abend nach hitziger Debatte ein Votum zur Rechtschreibreform — und machte ahnen, wie eine Abstimmung im österreichischen Nationalrat enden könnte, wäre sie erst einmal zugelassen: Die Skepsis überwog, das neue Schreibdeutsch wird als Amtssprache nicht zugelassen.
Der Bundestag hält die "Wiener Erklärung" nicht für rechtsverbindlich. Die neuen Rechtschreibregeln sollen noch einmal gründlich überdacht werden.
1998-03-25
50 Professoren für Sprach- und Literaturwissenschaft haben eine Erklärung gegen die Rechtschreibreform unterzeichnet.
1998-03-19
Von der Darmstädter «Akademie für Sprache und Dichtung» bis zum Schriftstellerverband scharte man sich hinter einem bayerischen Gymnasiallehrer zusammen, der — vom Furor teutonicus besessen — zum Kreuzzug für das richtige Deutsch blies. Das richtige Deutsch ist jenes, das im wilhelminischen Geist um die Jahrhundertwende verordnet wurde. Ein Deutsch, das mit Monokel, weissen Handschuhen und gedrechseltem Schnauzbart daherkommt.
1998-03-05
So machte eine Wiener Schülerin beim Treffen der österreichischen Kindergemeinderäte in Graz ihrem Ärger Luft: "Ich find' Politik manchmal ganz schön blöd. Im Parlament wollten sie eine neue Schrift, und wir haben noch nicht einmal die richtigen Bücher dazu gehabt", beschwert sich die Sechsjährige aus ihrer Sicht über die Rechtschreibreform.
1998-02-26
Und was dann unter dem Einigungszwang übrigbleibt von einer Reformidee, ist jeweils ihr kleinster gemeinsamer Nenner, ein rundgelutschter Kompromiß, der fest verpackt zwischen Aktendeckeln in den Amtsstuben verschwindet - bis zur Wiedervorlage. Da liegt zum Beispiel die Rechtschreibreform: Sie steht schon von Anfang an auf der Agenda der KMK und kann das fünfzigjährige Jubiläum gleich mitfeiern. Zwar haben sich die Minister jüngst endlich geeinigt, doch der Ausgang ist tragisch. Juristisch ist das Reformwerk umstritten und beschäftigt die Richter ebenso wie die Lehrer. Und nicht nur die. Eine halbe Nation steht auf den Barrikaden - voran Dichter und Denker.
Ihren Mitgliedern gewährt die Konferenz seit fünfzig Jahren tiefe Einblicke in die Gemütslage der Bundesrepublik. […] In einem Moment besonderer Leere flüstere ich meinem Nachbarn zu, daß die Tagesordnung so viele teure Dienstreisen nicht lohne, und bekomme den Zorn des sächsischen Staatsministers Meyer zu spüren, der zum ersten Mal das Wort "Obergine" in dieser Schreibweise in seinen Akten findet. […] Heute führt die KMK mit Schriftstellern und Querulanten gleichermaßen einen Kampf um den Bestand des deutschen Kulturgutes "ß".
In Wahrheit ist die KMK, gemessen an ihren Handlungsbedingungen und an dem Niveau bundesdeutscher Handlungsfähigkeit, besser als ihr Ruf. Die absurde Debatte über die maßvolle Neuregelung der Rechtschreibung beweist, daß die KMK in ihrer Reformwilligkeit weiten Teilen der Gesellschaft ein beträchtliches Stück voraus ist.
1998-02-23
1998-02-20
Das Bundesverfassungsgericht will im kommenden Sommer über die umstrittene Rechtschreibreform entscheiden. Laut dem Vizepräsidenten des Gerichts, Seidl, drängt sich eine Entscheidung noch vor Beginn des neuen Schuljahres auf.
Im heutigen Russland wird immer wieder die Behauptung aufgewärmt, die Reform sei nur eine von den unzähligen Schandtaten des bolschewistischen Regimes. Einer historischen Überprüfung hält diese Behauptung allerdings nicht stand. Die Bolschewiki führten lediglich ein Projekt durch, das vom «Klassenfeind» erdacht und bis in alle Einzelheiten vorbereitet worden war. […] Eine Rückkehr zu den vorrevolutionären Schriftverhältnissen, wie sie allen Ernstes manchmal gefordert wird, ist eine realitätsfremde, ganz abstruse Vorstellung.
1998-02-14
Dementsprechend gibt es ein einhelliges Bekenntnis zum 1. August 1998 als offiziellem Tag der Reformeinführung und dazu, die alte Beschlusslage von 1996 nicht anzutasten. Man dankt der Reformkommission für ihre Arbeit in anerkennenden Worten, düpiert sie jedoch de facto, indem man ihr anempfiehlt, sie solle ihren Änderungsbericht nicht als Vorschlag und Neufassung, sondern einfach als «Kommentar» zum Reformwerk verkaufen – und in eigener Verantwortung veröffentlichen.
Gisa Berger, Fremdsprachenlehrerin an der Carl-Zeiss-Gesamtschule in Berlin-Lichtenrade und in Tiefenbach bei Passau zu Hause, kann es nicht lassen. Immer dieses Einmischen müssen. Sobald sie Unvernunft wittert, muß sie sich ihr in den Weg stellen. Zum Beispiel bei der Rechtschreibreform. Wie hätte sie die denn ihren Schülern nahebringen sollen? Also hat sie ihnen erklärt, was sie davon hält. Nämlich gar nichts. […] Mehr als 2000 Unterschriften gegen die Reform hat sie gesammelt […].
Einer der prominentesten deutschen Schriftsteller, Gert Heidenreich, hielt die Laudatio auf die Oscar-Preisträgerin Gisa Berger. […] Ein Auszug aus seiner Rede: […] Kompliziert, mühsam und nicht ungefährlich ist es, Tradition als Fortschritt zu verteidigen. Eben dies aber gilt es in der Frage der geschriebenen Sprache. Der Begriff Recht-Schreibung suggeriert eine Gewißheit, die vorläufig ist. Schreibungen sind stets nur zweitweise richtig und entwickeln sich unaufhörlich. Sprache ändert sich jederzeit. Schreibweisen und Idiome setzen sich durch oder versinken. Sprache lebt und stirbt, ohne dazu "verregelt" worden zu sein. Wer erführe dies besser als Lehrer?
So richtig bekannt geworden ist die KMK jedoch erst im Herbst 1996: Damals bemerkten zunächst einige aus den Ferien zurückgekehrte Schriftsteller, daß am 1. Juli der Präsident der KMK sowie ein Vertreter des Bundesinnenministeriums gemeinsam mit den Abgesandten der deutschsprachigen Staaten eine Erklärung unterschrieben hatten, auf Grund derer sie die in den beiden vorausgehenden Jahren untereinander abgestimmte Rechtschreibreform umzusetzen gedachten.
1998-02-13
Kaum haben wir sie, die Rechtschreibreform, soll sie wieder gekippt werden. Die Medien sprechen bereits von einem neuen Kulturkampf, soviel Aufhebens wird um das bescheidene Reformwerk gemacht. Bei den Gegnern heisst es, sie sei ein «Eingriff in die sprachliche Integrität» und damit in unsere Grundrechte. Was steckt hinter diesem Reformunwillen und um welchen «Eingriff» geht es überhaupt? […] Heisst es nun «Seil springen» oder «seilspringen», «rechthaben» oder «Recht haben»? Hier müsste eine radikalere Reform insbesondere die Fehlerindikatoren von Schülern berücksichtigen, die, wie in pädagogischen Studien bewiesen, vorallem die Kleinschreibung favorisieren. Es bleibt also Arbeit für weitere Reformbestrebungen.
Doch die Herren Minister haben nur Gewalt über die Schulpolitik. Wie Bundesbehörden und Bundesgerichte die Bürger anschreiben werden, das darf der Bundestag festlegen, der bereits vor Monaten sein Contra zur Reform durchblicken ließ. Also erfolgt nun die Drohgebärde des Bonner Rechtsausschusses, der die Reform zwar nicht mehr in Gänze kippen will, dem Bundestag aber empfiehlt, die Amtssprache auf keinen Fall schon am 1. August umzustellen. Findet dieser Entschließungs-Entwurf die Bundestagsmehrheit, würde Deutschland ein Land der zwei Orthographien: einer Bonner (alten) Version und eines reformierten Schul-Deutschs, denn die Reform liefe ja auf Länderebene weiter. Das wäre dann der Gipfel der Absurdität.
Blickt noch wer durch? In ihrer Ratlosigkeit, wer denn nun wie über Wohl und Wehe der geplanten Rechtschreibreform entscheidet, hält sich auch die treueste Fan-Gemeinde des Trauerspiels Schreib-Reform mittlerweile am liebsten ans "juristische Elfmeterschießen" vor deutschen Gerichten. Zwischenstand derzeit: 18:11 für die Einführung der Reform.
Deutschlands Kultusminister sind einig. Sie beharren auf der von ihnen selbst dekretierten Rechtschreibreform. […] Und daß Österreich da wie selbstverständlich mitmacht, ist auch keine große Sensation. Wenn sie nicht — wie die Schweiz in Sachen ß/ss — den Alleingang wagt, dann bleibt der Alpenrepublik meist nur das zu tun, was Deutschland vorgibt. Sei es bei der Währung, sei es bei der Rechtschreibung. […] Immer mehr Akademien, Universitätsinstitute und Autoren haben, ähnlich wie "Die Presse", angekündigt, daß sie die neuen Regeln ignorieren werden. Nur die armen Volksschulkinder bekommen sie aufgezwungen. Und werden verwirrt, weil sie in der Schule andere Regeln lernen, als sie in der Gesellschaft praktiziert werden.
1998-02-12
Ob sie kommt oder nicht, ist ungewiss. Dennoch gibt die deutsche Rechtsschreibereform viel Diskussionsanlass: Manche Zürcher Unternehmen stellen sich ein auf sie, andere denken nicht daran. Überraschend allerdings: Ob von der Reform viel zu merken ist, darf bezweifelt werden. […] Alex Neuenschwander, Chefkorrektor des Nachrichtenmagazins «Facts», ist überzeugt, dass der Grossteil der Leser «es gar nicht gemerkt habt, dass wir schon seit einem Jahr die neuen Rechtschreiberegeln anwenden». […] Stephan Dové, der Chefkorrektor bei der «Neuen Zürcher Zeitung» hat einmal eine eng bedruckte Seite seines Blattes auf Änderungen gemäss den neuen Regeln hin untersucht, und nur gerade drei gefunden. «Es ändert sich fast nichts», lautet sein Fazit.
1998-02-09
Ostentativ beedeutet Frankreichs Kulturministerin Catherine Trautmann, man solle sie statt mit dem offiziellen, korrekten, gängigen «Madame le Ministre» mit «Madame la Ministre» anreden. […] Den Vorfall aufgreifend, plädierte der Schriftsteller Jean-Pierre Ceton für eine grundsätzliche Vereinfachung der französischen Sprache. Seiner zahllosen Sinnwidrigkeiten wegen sei das gallische Idiom heute immer weniger in der Lage, die menschliche Kommunikation zu erleichtern. Die Koexistenz mehrerer Schreibweisen – «oignon/ognon», joumals/joumaux» – sei durchaus wünschenswert.
1998-01-27
Die "Neuregelung" ist in sich unstimmig und wird nur zu neuer Verwirrung führen. Die sogenannte "Rechtschreibreform" kann als reichlich verspätete Folge der "68er"-Bewegung gesehen werden, die die Regeln der Rechtschreibung als Folter- und Beugeinstrumente einer autoritären Gesellschaft ausgemacht hatte.
1998-01-26
Als der Kritiker Friedrich Denk von den Bergen gestiegen war, um sich der Enttäuschten anzunehmen, gewärtigte mancher nur eine kulturpolitisch spannende Posse. Bald jedoch zeigte es sich, daß Denks Initiative für weitaus mehr gut war. Insbesondere war sie es dafür, der breiten Masse wieder bewußt zu machen, wieviel an Heimat ihr das dürre Orthographie-Gestrüpp bedeutet. Auch die Kultusminister dürften mit diesem Effekt kaum gerechnet haben, sonst hätten sie ihre Strategie damals vielleicht geändert. Es wäre nämlich durchaus denkbar gewesen, das Unternehmen als solches abzublasen, dessen brauchbare Hinterlassenschaft dem Volk aber peu à peu gewissermaßen unterzuschieben.
Die Behauptung von der großen Erleichterung ist glatter Etikettenschwindel. Die neue Rechtschreibung ist im wesentlichen die alte. (. . .) Wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, daß von den 12.000 Wörtern des schulischen Grundwortschatzes bescheidene 185 zwar geändert, aber noch längst nicht vereinfacht werden.
1998-01-23
Viele deutsche Schriftsteller hätten sich eine weitergehende Reform gewünscht, sagte Bittner, der Autor zahlreicher Abenteuerromane und Kinderbücher ist. So wäre beispielsweise die Einführung einer gemäßigten Kleinschreibung, wie im gesamten Ausland üblich, auch in Deutschland angebracht.
1998-01-22
Wie man schon verschiedentlich hören konnte, sollen diese Wort- und Unwort-Ranglisten sehr populär sein. Wenn dem so ist, dann wird da ein krasser Gegensatz sichtbar zur Unpopularität der Rechtschreibereform, die längst im Morast kollektiver Egoismen und Eitelkeiten versunken ist. Aber wieso sollen Linguisten, Literaten und andere Liebhaber der Sprache weniger streitsüchtig sein als die Eltern der kleinen Abc-Schützen? Übrigens hält sich hartnäckig das Gerücht, für das Wort «Rechtschreibereform» seien bei der Frankfurter Jury mit Abstand am meisten Nennungen aus dem Publikum eingegangen. Wenn das stimmt, werden die Sprachhüter noch in arge Erklärungsnot kommen: Warum haben sie ausgerechnet den «Wohlstandsmüll» gewählt?
Fakt bleibt, daß die langweiligste Sache der Welt - die spröde Lehre von der rechten Orthographie - längst die Qualität eines Glaubensbekenntnisses gewonnen hat. […] Eines ist jedenfalls sicher: Von der mit so viel Bandagen durchgeboxten Reform bleibt nach dieser Revision außer einigen Fingerzeigen wie der bekannten "ß"-Regelung ("ss" für "ß" nach kurzem Vokal) nicht allzu viel übrig.
1998-01-20
Nicht gefragt wurden die Träger deutscher Schriftkultur, die Journalisten und Schriftsteller, Wissenschaftler, Juristen, Verleger. Mit dem Trojanischen Pferd der Verordnung für die Schule soll ihnen eine Rechtschreibung aufgezwungen werden, nach der keiner verlangt hat und die die allermeisten ablehnen.
1998-01-17
Christian Meier, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, fordert den Stopp der Rechtschreibreform: "Man mutet uns zu, evidente Dummheiten zu begehen." […] Christian Meier: Wir finden uns nicht bereit, mit der Kommission fünf Stunden lang zu verhandeln, weil wir darin keinen Nutzen sehen. Die sind verrammelt und handlungsunfähig, weil sie so tun müssen, als ob alles beim alten bliebe.
1998-01-15
Mehr als zwanzig Jahre haben die Neuregler der Sprache verplempert, um ein paar Spitzfindigkeiten auszuhecken, auf die kein Mensch gewartet hat.
Dass die Kommission keine der neuen Regeln vollständig zurücknimmt, sondern sie nur lockert mit der Tendenz, neben den neuen auch wieder alte Schreibungen («Varianten») zu erlauben, besiegelt nach dem Urteil der Reformgegner das Desaster. […] Damit wir bei […] frisch gebackenen Ehepaaren an Backöfen denken, muss mehr über uns hereinbrechen als eine Rechtschreibereform Mannheimer Zuschnitts.
1998-01-14
Von der Regelungswut zur völligen Beliebigkeit: Die Rechtschreibkommission setzt sich dem Vorwurf groben Unfugs aus. Schüler, die bereits danach lernen, Lehrer, denen die Haare zu Berge stehen, Experten, die Ratschläge erteilen, Eltern, die klagen, Bürger, die Volksbegehren anstrengen, Kultusminister, die Kompromisse suchen, Richter, denen Entscheidungen abgenötigt werden, Verlage, die ein Desaster befürchten — die Verwirrung um die Rechtschreibreform könnte größer nicht sein. […] Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht zur Verwirrung beigetragen wird. Der jüngste Coup war der Vorschlag der "Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung", wonach bei der geplanten Reform neben der neuen Schreibweise auch viele alte Varianten zugelassen werden sollen.
1998-01-12
Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung hat zu heftigen Diskussionen geführt und ist sogar zum juristischen Streitfall geworden. […] In Deutschland liegen bis jetzt 22 Gerichtsentscheide vor und etliche Verfahren sind noch hängig. […] In Österreich und der Schweiz ist die Rechtschreibung bis jetzt je einmal vor Gericht gekommen. […] Heftige und polemische Diskussionen begleiten deshalb jeden Versuch, die Rechtschreibung zu reformieren. Das war im 19. Jahrhundert so bei den Vorstössen, die letztlich zu der heute geltenden Rechtschreibung geführt haben, wie auch bei all den Anläufen zu einer Reform in unserem Jahrhundert. Hier liegt ein Versäumnis der Reformer vor. Zwar wurde regelmässig über die Arbeiten informiert, aber man hat viel zu wenig die Beweggründe des Ganzen und den Umfang der zu erwartenden Änderungen vermittelt.
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung wird an den Gesprächen, zu denen die Reformkommission lädt, nicht teilnehmen. "Da wir die Rechtschreibreform ablehnen, übrigens auch der Meinung sind, daß der Staat zu tieferen Eingriffen in die Rechtschreibung gar nicht legitimiert ist, kann man schlecht von uns erwarten, daß wir uns an etwas beteiligen, was zum Zweck hat, die geplante Schreibung annehmbarer zu machen". Christian Meier […]
1998-01-10
Dass nun in einigen Fällen parallel auch die alte Schreibweise gültig bleiben soll, bedeute keine Reform der Reform, sagte Augst im «Deutschlandradio Berlin».
1998-01-09
Die kulturpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Erika Steinbach, hat die sofortige Auflösung der Rechtschreibkommission gefordert. […] "Grober Unfug ist eine harmlose Umschreibung dessen, was die Rechtschreibkommission angerichtet hat."
1998-01-03
Gezielte Eingriffe in die Rechtschreibung sind immer ein Politikum. In der Einstellung zur Rechtschreibereform teilen sich die Menschen in «Radikale» und «Konservative». Die ersten wollen die Schriftsprache dem «Volk» näherbringen, indem sie sie «demokratisieren»; die letzteren sehen darin die Gefahr der Simplifizierung. So ist es heute in Deutschland, so war es vor achtzig Jahren in Russland, als die Bolschewiki per Dekret die neue Orthographie einführten. […] Das profane Russisch führte bis ins 20. Jahrhundert hinein Reste von Kirchenslawisch mit sich: mehrere Schriftzeichen, die entweder nicht ausgesprochen wurden […], oder […] Buchstaben […], die fast gleich ausgesprochen wurden, sollten auf nur einen Buchstaben reduziert werden. […] Erst nach der Machtübernahme der Bolschewiki wurde die Reform in abgemilderter Form, aber mit diktatorischen Mitteln umgesetzt.
1998-01-02
Seit Dieter E. Zimmers Vergleich in der Zeit> vom 26. September 1996 ist bekannt, daß es zahllose Differenzen zwischen Duden und Bertelsmann gibt. Daß es etwa 8000 Widersprüche waren (1000 Wortschreibungen und 7000 Silbentrennungen), wurde Anfang Juli 1997 durch Peter Eisenberg und Werner Hauck bestätigt, denen als Mitgliedern der Mannheimer Kommission mehr als 100 Seiten Vergleichslisten vorlagen.
1998
Jede gesellschaftliche Konvention könnte besser sein, als sie ist; so auch ein Rechtschreibungssystem. Deshalb waren und sind fast in jeder Sprachgemeinschaft orthographische Regelungen Gegenstand von Reformüberlegungen. Solche haben in dem zu Ende gehenden Jahrhundert in der Mehrzahl der europäischen Sprachen zu orthographischen Neuerungen verschiedenen Ausmaßes geführt. (Wo an der Rechtschreibung nichts verändert wurde, lag das nicht allemal an ihrer Vortrefflichkeit – auch ihre Unreformierbarkeit oder gesellschaftliche Unbeweglichkeit können die Ursache sein.) […] Die Reform wegen ihrer Unzulänglichkeit abzulehnen bedeutet nicht, den Weg für gründlichere Verbesserungen frei zu machen; vielmehr würde damit das Geschäft derjenigen besorgt, welche die deutsche Rechtschreibung auf unabsehbare Dauer zur Unveränderlichkeit verurteilen wollen.
Auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes […] ist die von der Kultusministerkonferenz verfügte "Rechtschreibreform" äußerst umstritten. Aus linguistischer Sicht ist sie eher als die Karikatur einer Reform zu bezeichnen, geeignet, jeden Gedanken an eine Reformierung der deutschen Orthographie, die auch diesen Namen verdient, für Jahrzehnte zu diskreditieren. Die Orthographie sollte für jeden leicht erlernbar sein, der die zu schreibende Sprache beherrscht oder erlernt.