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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel1996-10-16 → Sprache als Kunst und als Kommunikationsmittel
ortografie.ch ersetzt sprache.org ortografie.ch ersetzt in zukunft sprache.org

Basler Zeitung, , nr. 242, s. 41 bis 43

Trends und Traditionen der Rechtschreibregelung: Ein historischer Abriss aus linguistischer Sicht

Sprache als Kunst und als Kommunikationsmittel

Am 1. Juli 1996 beschlossen Vertreter deutschsprachiger Länder die Rechtschreibreform. Sie wird am 1. August 1998 in Kraft treten, wobei in einer Übergangsphase die alten Regeln noch bis zum 31. Juli 2005 zugelassen sind (vgl. BaZ vom 22. 8., 7. und 9. 10. 1996). Nun ist der Streit neu entbrannt (siehe Kasten). Wir baten den Linguisten Christoph Grolimund, wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität Basel, um eine Analyse einiger grundsätzlicher Aspekte in einem weiteren geschichtlichen Kontext. Baz

«Komisch, dass Schrift­steller für und gegen Nor­men strei­ten, an die sie sich als Künstler so­wieso nicht hal­ten.» (Martin Wal­ser)

Die Rechtschreibung wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz vom Staat geregelt («amtliche Rechtschreibung»). Orthographie wird damit in die Nähe anderer staatlicher Normen wie der Strassenverkehrsregeln oder der Grenzwerte für Luftschadstoffe gerückt. Diese Auffassung verstellt aber die Sicht auf die eigentliche Aufgabe der Rechtschreibung, nämlich auf das Wie der Schrift. Im Vorgang des Schreibens werden gedankliche Inhalte in graphische Repräsentationen, das heisst Schriftzeichen, überführt. Dieser Vorgang bedarf an und für sich keiner Regulierung. Wer schon einmal einen Dialekttext geschrieben hat, weiss, dass die schriftliche Fixierung auch ohne Mundartorthographie möglich ist.

Rechtschreibung wird unverzichtbar, wenn der Leser und die Leserin miteinbezogen werden. In diesem Sinne ist es die primäre Aufgabe der Orthographie, das Er-Lesen von Geschriebenem, also das korrekte Zurückübersetzen von Geschriebenem in Bedeutung zu sichern. Rechtschreibung ist das Wie der Schrift; sie soll einem Leser oder einer Leserin helfen, Bedeutung zu erschliessen. Sie ist weder eine staatliche Norm noch ein Instrument, die Intelligenz eines Menschen zu messen.

Das häufig gehörte Argument, eine Reform der Rechtschreibung erschwere den Zugang zu den Klassikern unserer Literatur, weist auf die Tendenz hin, Schreiben primär als kulturelle Tätigkeit zu sehen. Der Schriftlichkeit kommt aber eine viel grundsätzlichere alltagspraktische Bedeutung zu. Schreiben ist Voraussetzung für eine Kommunikation über Raum und Zeit. Erst die Schrift macht es möglich, Mitteilungen über grössere Räume zu übermitteln und der Nachwelt zu erhalten.

Es ist deshalb kein Zufall, dass die ersten Schriftdenkmäler am Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. in Ägypten auftauchen, als mit dem Pharaonenstaat ein hochzentralisierter Staat entsteht. Die wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Leistungen jener Zeit wären ohne geschriebene Sprache unmöglich gewesen. Erst mit der Schrift wurden hauswirtschaftliche Buchführung, Lagerhaltung, Kontrolle von Anbaumethoden und Wettereinflüssen sowie effiziente Kriegsführung möglich.

Die ältesten Schriften, zum Beispiel die ägyptischen Hieroglyphen oder die chinesischen Schriftzeichen, sind logographische Schriften: Jedes Zeichen entspricht einem Wort («logos»). Solche Schriften brauchen lange, um erlernt zu werden; sie sind Spezialisten vorbehalten. Welches Hindernis eine logographische Schrift für die breite Alphabetisierung darstellt, kann man am heutigen Chinesischen beobachten. Das klassische Chinesische umfasst rund 30000 Zeichen, die Alltagssprache zwischen 3000 und 5000 Zeichen. Aber auch mit diesem reduzierten System lassen sich nur zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung alphabetisieren.

Ein Schritt zur Entspezialisierung war die Silbenschrift des Griechischen («Linear B») aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. Silbenschriften orientieren sich an lautlichen Bildungselementen, an den Silben. Im Vergleich zu logographischen Schriften kommen Silbenschriften mit einem kleineren Inventar an Zeichen aus.

Entspezialisierung

Aber auch hier ist das Schreiben noch auf Spezialisten beschränkt. Erst die Entwicklung der Buchstabenschrift bei den Griechen (um 800 v. Chr.) schafft die nötigen Voraussetzungen für eine allgemeine Entspezialisierung des Schreibens. Das Alphabet reduziert die Zeichenmenge auf 25 bis 30 Zeichen. Die Benutzung der Schrift wird nun prinzipiell für jede und jeden erlernbar. Eine neue Hürde entsteht nun allerdings dadurch, dass der Gebrauch des Alphabets an ein komplexes System formaler Regeln gebunden ist: die Orthographie.

Die Entwicklung von den ersten logographischen Schriften zur modernen Buchstabenschrift ist eine fortlaufende Entspezialisierung der Schrift, die Anforderungen für den Erwerb der Schreibfähigkeit werden laufend reduziert. Die Rechtschreibereform steht in dieser Beziehung durchaus im Einklang mit dem Trend, Schrift für alle zugänglich zu machen. Auch wenn man sich an einzelnen Schreibungen stossen mag, es bleibt eine Tatsache: Die neue Rechtschreibung kennt nur noch 136 Regeln, davon betreffen 25 das Komma. Die alte Rechtschreibung (Duden 19. Auflage von 1989) umfasste 212 Regeln, davon 37 Kommaregeln.

Im 19. Jahrhundert begann die Sprachwissenschaft, sich für eine einheitliche Rechtschreibung einzusetzen. Die historische Schule um Jakob Grimm forderte eine Ausrichtung am Deutsch des Mittelalters. Konsequente Kleinschreibung und unbezeichnete Längen hätten zu Schreibungen wie mer sowohl für mehr als auch für Meer geführt. Die sogenannte phonetische Schule um Rudolf von Raumer setzte sich für eine Vereinheitlichung der bestehenden Rechtschreibung ein, ohne am bestehenden Schreibgebrauch viel ändern zu wollen.

In mancher Hinsicht ist die Diskussion um die gegenwärtige Reform und die politische Entwicklung der damaligen vergleichbar. Die 1. Orthographische Konferenz verabschiedete 1876 nicht zuletzt aus politischen Gründen ein «behutsam einigendes» Regelwerk. Die Öffentlichkeit nahm es aber überwiegend negativ auf. Drei Jahre später verabschiedete Bayern – hier unterscheiden sich Vergangenheit und Gegenwart – eine Rechtschreibung für die Schule auf der Grundlage der 1. Orthographischen Konferenz. Preussen zog 1880 nach. Bismarck verbot die neuen Regeln aber für seinen Einflussbereich, den amtlichen Gebrauch.

Vereinheitlichung

Auf der 2. Orthographischen Konferenz 1901 wurden dann die Rechtschreibungen der einzelnen deutschen Länder doch noch vereinheitlicht. Es entstand ein Regelwerk, auf das sich alle deutschen Länderregierungen, die Schweiz und Österreich einigen konnten. Die erste amtliche Rechtschreibung für den ganzen deutschen Sprachraum war damit geboren. Eine Ausnahme machte Kaiser Wilhelm II. Er weigerte sich, Schriftstücke in der neuen Rechtschreibung zu lesen; bis 1911 wurden offizielle Texte für ihn umgeschrieben.

Die Parallelen sind recht deutlich. Es brauchte mehrere Abläufe, bis eine konsensfähige Regelung gefunden war. Radikale Lösungen hatten keine Chance. Damals wie heute machten einzelne politische Personen ihren Einfluss geltend: 1901 verhinderte Wilhelm II. die Reform der Wörter Kaiser und Thron zu Keiser und Tron; 1996 opponierte der bayrische Kultusminister gegen Schreibungen wie der heilige Vater und Ortografie.

Das Resultat der 2. Orthographischen Konferenz war keine Normsetzung. Die Berliner Konferenz hat im grossen und ganzen nur den damaligen Sprachgebrauch mit kleinen Korrekturen (wie etwa die Abschaffung der th-Schreibungen, ausgenommen wurde nur das Wort Thron) festgehalten. In diesem Sinne handelt es sich nicht um eine Normsetzung, sondern um die Kodifizierung einer gegebenen Norm. Die Rechtschreibereform von 1996 ist damit die erste behördlich erlassene Reform der deutschen Sprache überhaupt.

Im Gegensatz zum Regelwerk von 1901 wird die Zeichensetzung zum ersten Mal offiziell geregelt. Das Regelwerk von 1901 schwieg sich zu diesem Thema aus. Die Sammlung bisheriger komplizierter Komma- und anderer Interpunktionsregeln ist von Dudens Gnaden; sie sind ohne grosses Aufheben von Auflage zu Auflage neu dazugekommen.

Konrad Duden hat den ersten «Duden» als Wissenschaftler verfasst. Der Duden der Gegenwart ist ein privates, gewinnorientiertes Unternehmen, dem es gelungen ist, die Rolle der letzten Instanz in allen Fragen der Rechtschreibung einzunehmen. Ganz wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat ein Beschluss der deutschen Kultusminister von 1955: «In Zweifelsfällen sind die im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich.» Die Reform hat diesen Vorteil des Duden gegenüber seinem alten Konkurrenten Bertelsmann wieder eingeebnet. Der Duden-Verlag kann sich im Wettbewerb um einen Umsatz von mehreren hundert Millionen DM immer noch auf sein – bis vor kurzem gesetzlich geschütztes – Renommee verlassen.

Die neuen Regeln haben sich gegenüber den alten auch im Ton verändert. Präsentierte sich der Duden gern als absolute Autorität, so finden sich für alle Bereiche nun Kann-Wendungen, welche die neuen Regeln in die Nähe von Vorschlägen und das Regelwerk in die Nähe eines Leitfadens rücken. Diese Entwicklung ist insgesamt sicher positiv. Sie könnte einen Beitrag dazu leisten, die Rechtschreibung als soziale Norm aufzuweichen, denn gar vorschnell wurde jemand bisher aufgrund von Fehlern verurteilt: «Der kann ja nicht einmal richtig schreiben!»

Weltweit gesehen ist das Zustandekommen der deutschen Orthographie-Reform nicht aussergewöhnlich. Norwegen, Schweden, Spanien, Portugal, die Niederlande, Dänemark und Polen, Bulgarien, Russland, Lettland und Indonesien – um einige Beispiele zu nennen – haben in diesem Jahrhundert zum Teil mehrfach in die Rechtschreibung eingegriffen. Zum Teil waren diese Reformen verhältnismässig geringfügig wie die Abschaffung des Akuts auf vier Wörtern im Spanischen (á, é, ó, ú zu a, e, o, u), zum Teil waren es durchaus beträchtliche Reformen wie die Abschaffung der Grossschreibung in den Niederlanden oder die Regulierungen in Indonesien, welche dem Bahasa Indonesia zum Durchbruch als Lingua franca verhalfen.


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