Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Orthographisches Glatteis
Als vor gar nicht langer Zeit in Frankreich von ernsten Gelehrten – ach, gäbe es doch auch heitere Gelehrte! – ein Attentat auf die Orthographie geplant wurde, da hat sich die Öffentlichkeit mit einer Vehemenz gewehrt, an der sich das deutsche Sprachgebiet hoffentlich ein Beispiel nehmen wird, wenn eines Tages solche Projekte uns zu überrumpeln drohen.
In Frankreich war es der Conseil supérieur de l’Education-nationale, der die Orthographie vereinfachen wollte. Und die Reaktion war ziemlich einhellig. Colette meinte, die französische Orthographie sei noch viel zu einfach, und in dem Brandbrief einer temperamentvollen Pariserin, Madame Irène Cantarel, steht genau das, was man auch in deutschsprachigen Landen schreiben müßte, wenn man mit Schaudern – „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil“ – erfährt: was uns von dunklen Mächten angedroht wird.
Madame Cantarel meint, daß ein Volk seine Orthographie nicht darum vereinfachen soll, damit sie für die Fremden leichter erlernbar werde. Sie hält das Projekt für kindisch und stupid, für eine nationale Gefahr, für einen Wahnsinn, für eine ethnische Sabotage. Pas moins!
Sie gibt zu, daß die Orthographie – vor allem die französische – wohl eine Wissenschaft, mehr aber noch eine Gabe ist, und berichtet, daß von ihren drei Söhnen zwei diese Gabe besitzen, während der dritte, ach, der dritte, vier Fehler in jeder Zeile macht. Und sie tritt dafür ein, daß man eine Sprache nach ihren eigenen Gesetzen «leben und sich entwickeln lassen soll. Vielleicht, meint sie, werden die Nachkommen in dreihundert Jahren statt „un cheval“ bereits bei „un chfal“ oder „un jval“ angelangt sein, wie es ihr dritter Sohn schon jetzt vorahnend schreibt, aber man gebe der. Sprache Zeit, diese Samen reifen zu lassen.
„Es ist“ so sagt sie nachdrücklich und sehr überzeugend, „symptomatisch für unsere Zeit, daß ein solches Projekt etwas anderes ist als Schülergeschwätz, und daß ein Conseil supérieur unserer Ausbildung sich damit befassen und. es ernsthaft erörtern kann. Unser Erbgut ist in großer Gefahr, wenn „es nur eines Regierungsdekrets bedarf, um die Ausdrucksform dieses Erbguts zu verändern. Daran zu rühren, heißt, an Seele und Herz zu rühren, denn es ist ein Attentat gegen den Geist. Sollte ein Musset schreiben: ‚Poaite, pran ton lut é me done en bézé’, dann gestatten Sie mir zu glauben, daß Ronsard seine Kindeskinder verfluchen wird, und daß es kein Heil für ein Volk geben kann, das solch einer Leistung Beifall spendet!
O beneidenswertes Land, das seine Sprache derart pflegt, und dessen Sprechende und Schreibende sich nicht stumpf dem Diktat sprachferner, als Revolutionäre verkleideter Pedanten fügten, über deren Verhandlungen der Schatten des Schülers der ersten Klasse lag! Jeder einzelne gewiß gelehrter Mann, vom besten Willen beseelt – „beselt“ wird es heißen, wenn auf deutschem Sprachgebiet Erfolg hat, was man uns bescheren will! –, in ihrer Gesamtheit Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.
Von den unendlich. größeren Schwierigkeiten der französischen Orthographie gibt es ein traurig Stück, das berühmte dictée Prosper Merimées, mit dem er den Hof Louis-Napoléons auf das orthographische Glatteis führte. Kaum mehr als zwanzig Zeilen, doch mit Kniffligkeiten gespickt, deren „les cuisseaux de veau et les cuissots de chevreuil“ noch eine der kleinsten ist.
Der Kaiser machte nicht weniger als fünfundvierzig Fehler, der Kaiserin mußte man, da sie Spanierin war, hingehn lassen, daß sich bei ihr noch erheblich mehr Fehler fanden, die Damen und Herren vom Hofe blieben auch der Strecke, und nur ein einziger begnügte sich mit zwei Fehlern, und „das war der österreichische Botschafter, Fürst Metternich.
Mit einigem Stolz glaubt man, behaupten zu dürfen, daß kein durchschnittlich gebildeter Deutsch-Schreibender in einigen zwanzig noch so sehr mit Fußangeln und Spanischen Reitern versehenen Zeilen fünfundvierzig Fehler machen könnte; doch da hat man seine Rechnung. ohne den Duden gemacht, der die Fehlermöglichkeit mutwillig vervielfacht hat.
Wenn man, zum Beispiel, glaubt, sein Möglichstes zu tun, so wird man man belehrt, daß man es nur mit kleinem „m“ tun darf. 'Dagegen erlaubt der „Rahmen des Möglichen“ ein großes „M“. Die Unterscheidung, wann man „alles mögliche“ und wann „alles Mögliche“ schreiben muß, ist ebenso ausgetüftelt und töricht wie die Unterscheidung zwischen „das erstemal“ und „das erste Mal“. Der Duden hat es so weit gebracht, daß man nicht mehr weiß, ob man „heute Abend“ oder „heute abend“ schreiben soll, und mancher würde mit Recht versagen, wenn er eine „Gottfried Keller-Straße“ nach dem Duden „Gottfried-Keller-Straße“ schreiben müßte, das „Getto“ ohne „h“ will nicht aus der Feder, und die Schreibung des Wortes „postum“ – so und nicht anders steht es im Duden und infolgedessen auch in den meisten Zeitungen – führt bei einiger Konsequenz dazu, daß man statt „Rathaus, Barthaar, Brathering“ schreiben müßte: „Rataus, Bartaar, Bratering“. Denn die Motivierung, daß die Lateiner „postumus“ schrieben, ist pedantischer Unsinn. Dem Wort ist ein völlig anderer Sinn zugewachsen; es heißt nicht mehr „der Letzte“, sondern seit dem Spätlateinischen „der Nachgeborene“, und somit ist die aus der Assoziation entstandene Ableitung aus dem Wort „humus“ durchaus vernünftig. Und während man noch überlegt, ob der Gegensatz von „normal“ richtiger „abnormal“ ist, wie das immerhin kein Geringerer als Karl Kraus schreibt, von dem sämtliche Duden und Dudenausschüsse noch mehr zu lernen hätten, als ihre Schulweisheit sich träumen läßt, oder „anormal“, bezeichnet der Duden kurz, aber gar nicht gut, „anormal“ als falsch und erklärt „anomal“ für den richtigen Gegensatz von „normal“.
Leider ist der Duden „faute de mieux“ unentbehrlich; er hat in seinen neuen Ausgaben wenigstens einige Greuel der Hitlerzeit abgestreift, und Hitler selbst wird man vergebens dort suchen, wo er noch in der vorletzten Ausgabe zu finden – hinter Histrione. Aber es wäre wünschenswert, wenn jeder Käufer zum Duden gleich auch den Anti-Duden kaufen würde, der. unter dem, Namen „Dudens Schreib- und Sprachdummheiten“ bei Francke in Bern erschienen – ist. Der Verfasser K. E. Rotzler ist nicht. immer ganz so witzig, wie er zu glauben scheint, er schießt sehr oft über das Ziel hinaus oder neben Ziel vorbei; so geht sein Feldzug gegen das Wort „Beistrich“ an Stelle von „Komma“ von der irrigen Annahme aus, daß diese Verdeutschung von dem neuaufgelegten Duden erfunden sei. Wenn es in einem Gedicht von Hermann Hesse heißt: „Ein Beistrich öffnet Wald- und Gartenpfade“, so möchte man den Beistrich, der übrigens in ganz Österreich und wohl auch in Süddeutschland heimisch war, keinesfalls durch ein Komma ersetzen.
In unzähligen Fällen aber hat Rotzler gegen den Duden recht, und immerhin zwingt er den Schreibenden zum Nachdenken und zur Kritik. Ach, möchte ihm – dem Anti-Duden – das auch bei Redaktoren, Lektoren, Korrektoren und Setzern gelingen! Dann könnte der Duden ein brauchbares Hilfsbuch sein, eine Fibel, aber keine Bibel, wie ein sehr berufener Kenner ihn nennt, und nicht, wie jetzt, für jeden, dem die Sprache Ausdruck und nicht bloß Aussaqe bedeutet, ein Albdruck.
Wenn ich bitten darf: ein Albdruck mit weichem „b“!