Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Neue deutsche Rechtschreibung.
Im Reichsministerium des Innern in Berlin hat am 27./28. Januar ein Sachverständigenausschuß getagt, welcher die Grundlagen für eine neue Rechtschreibung festlegen sollte. Die Grundsätze, auf die man sich einigte, sind: Vollständige Beseitigung der Doppelvokale (außer in wenigen Fällen, wo sie zur Vermeidung von Verwechslungen nötig sind), Beseitigung des ai zugunsten eines ei, Einführung von kk statt ck, von x statt ks, cks und chs, von f statt v und ph, Beschränkung der großen Buchstaben auf Namen und Satzanfang.
Zweifellos werden weite Kreise finden, daß Deutschlands dringlichere Aufgaben harren als eine neue Rechtschreibung, die fürs erste doch nur Verwirrung schaffen wird, denn das Volk, das so folgsam am Schnürchen Dudens tanzte, wird sich störrischer erweisen in Zukunft. Der Schweizer, der in der Mundart vielfach spricht, wie man noch hochdeutsch schreibt, wird die Bezeichnung des i-Lautes stets durch ein einfaches i schon aus historischen Gründen nicht gerne annehmen. Er schreibt Liebe und spricht in der Mundart Liebe noch diphthongiert aus wie im mhd., er sieht, daß seine Beharrlichkeit noch im Schriftbild zu erkennen ist. Doch man hat, wie aus den Ausführungen Prof. A. Billeters hervorgeht, gewichtigere Gründe und Bedenken gegen diese „Proletarisierung der Sprache“. Auch in der deutschen Presse haben die Vorschläge wenig Anerkennung gefunden. Den 25 bis 30,000 Lehrern, die als Kerntruppe hinter der Bewegung stehen sollen, wird ein schwerer Kampf warten. Der bekannte Münchner Privatdozent Dr. Eugen Lerch veröffentlicht einen Gegenaufruf („Frtnkf. Ztg.“ vom 21. Februar). Die Folgen dieser orthographischen Verirrungen in Deutschland legen die folgenden Ausführungen anschaulich dar. (Die Red.)
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Dem von so mancherlei Mißgeschick verfolgten deutschen Volke steht eine neue Prüfung bevor, die überdies auch die andern Deutsch Schreibenden und Lesenden heimzusuchen droht. Diesmal von seiten seiner eigenen „Pharisäer und Schriftgelehrten“. Eine neue Rechtschreibung nämlich, und was für eine! Es scheint, daß der Allgemeine Deutsche Sprachverein und sein Führer Sarrazin den Anstoß gegeben haben; jedenfalls hat ein Fachausschuß sich weitgehende Vorschläge zu eigen gemacht und einem Reichsschulausschuß vorgeschlagen. Das Bild, das man sich von den geplanten Neuerungen nach Angaben in deutschen Zeitungen machen muß, ist etwa das folgende; wir geben statt unanschaulicher Regeln gleich einige Beispiele, die wir frei wählen, ohne langes Suchen. Man wird also, soweit die deutsche Zunge klingt, künftig schreiben und lesen: füle (= fühle, fülle, Fülle); fülen (= fühlen, füllen, Füllen); folen (= vollen, Fohlen); höle (= höhle, Höhle, Hölle); in (= ihn, in); ofen (= offen, Ofen); stal (= Stall, stahl, Stahl); fal (= Fall, fahl); falen (= fahlen, fallen); wone (= wohne, Wonne); sone (= Sohne, Sonne); raten (= raten, Ratten); stil (= still, Stiel, Stil); stile (= stille, Stille, Stiele, Stile); wole (= Wolle, wolle, Wohle); denen (= denen, dehnen); stat (= statt, Statt, Stadt); beten (= beten, betten, Betten, Beeten); wux (= wuchs, Wuchs); räzel; orzname; stez; folx; folenz; gebet (= gebet, Gebet); heler (= heller, Hehler, Heller); schwelend (= schwelend, schwellend); schwele (= schwele, schwelle, Schwelle); den (= den, denn). – Fülest wider busch und tal stil mit nebelglanz. – Wil den kein reter komen disem lande? – So etwa soll also künftig das Kleid aussehen, in das die arme deutsche Sprache gesteckt wird! Daß eine solche Rechtschreibung nach den verschiedensten Richtungen nichts taugt, braucht kaum näher bewiesen zu werden. Praktisch ist sie unbrauchbar, weil sie das Lesen durch zahllose Hemmungen erschwert, bekanntlich das Nötigste, was eine Orthographie leisten soll. Der Einwand, im Zusammenhang würde die Möglichkeit von Mißverständnissen mehr oder weniger verschwinden, trifft nicht das Wesentliche. Die Rechtschreibung darf vielmehr von vornherein grundsätzlich nur ein Mindestmaß, nicht ein Höchstmaß von Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nehmen. Sprachpsychologisch ist sie sinnlos und schädlich, weil sie die verschiedensten Wortstämme und innerhalb derselben Stämme mannigfache Wortbildungen zusammenwirft und unkenntlich macht. Drittens zerreißt sie den Zusammenhang mit dem ganzen deutschen Schrifttum, soweit es bisher gedruckt vorliegt, indem dessen Lesung technisch und psychologisch erschwert und peinlich gemacht wird. Der Einwand, man könne ja das Nötigste neu drucken, ist mehr als schwach; einmal könnte ja wirklich nur eben das Nötigste erneuert werden und alles andere würde uns entfremdet; aber auch wenn die Mittel für den Neudruck eines kleinen Teils der deutschen Literatur zu Gebote stünden, dürfte man es volkswirtschaftlich verantworten, um orthographischer Schrullen willen sie mutwillig zu verschwenden? Nun sind aber diese Mittel jetzt und auf absehbare Zeit hinaus nicht vorhanden, was freilich die Urheber dieses orthographischen Attentates auf den gesunden Menschenverstand nicht zu kümmern scheint. Man wird sich freilich auch darüber nicht verwundern, wenn man vernimmt, wie die Einführung einer neuen Rechtschreibung gerade für den gegenwärtigen Zeitpunkt gerechtfertigt wird: man führe ja doch neue Schulbücher ein!
Man wird uns einwenden, was man in Deutschland mit der deutschen Rechtschreibung mache, gehe uns Schweizer nichts an. In gewissem Sinne ja. Nur sollte dann unsere schweizerische Oeffentlichkeit – und alle Welt ist hier mitinteressiert, nicht nur etwa die „Fachleute“ – jetzt schon laut und deutlich erklären, daß wir nicht gewillt seien, alle orthographischen Scherze mitzumachen. Schon beim letzten „Duden“ war man viel zu willfährig; diesmal sollte von vornherein Stellung bezogen werden.
Guſtav Billeter