Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Freundlicher Nachruf auf die Fraktur
VON WILHELM RÖPKE
Ein französischer Dichter des 16. Jahrhunderts, den ich im Feriengasthof frei aus dem Gedächtnis zitieren muß, hat dem Erfinder der Schrift die folgenden Verse gewidmet, die, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, kein Geringerer als Corneille zu den schönsten der französischen Literatur gerechnet hat:
Car c’est de lui que nous vient l’art ingénieux,
De peindre la parole et de parler aux yeux,
Et par les traits divers de figures tracées,
Donner de la couleur et du corps aux pensées.
Man kann in der Tat nicht schöner und treffender die Bedeutung der graphischen Form des Wortes kennzeichnen. Gewiß kann man sie übertreiben und aus der Frage des Schriftbildes eine artistische Spielerei oder eine gefährliche Manie machen; aber selten ist es ganz gleichgültig, welche graphische Form wir unseren Gedanken und Mitteilungen geben.
So ist denn auch gewiß der Leitung der „Neuen Zürcher Zeitung“ der Entschluß nicht leicht gefallen, von der altgewohnten Fraktur zur Antiqua überzugehen. Sicherlich sind aber auch die Leser und Freunde zahlreich, die ihr dafür besonders dankbar sind, daß sie diesen Entschluß mit technischen Notwendigkeiten und mit Rücksichten der bloßen Zweckmäßigkeit begründet hat, statt der Versuchung zu erliegen, den Uebergang zu einem schrecklichen Akt dar Weltanschauung zu machen. Es hätte nahegelegen, über eine so schwere Niederlage der sogenannten „deutschen“ Schrift zu triumphieren. Man hat es nicht getan und damit Gefühle geschont, die gewiß Respekt verdienen. Man hat eine Ritterlichkeit bewiesen, die um so höher anzurechnen ist, als leider auch die Fraktur zu einem bedauernswerten Opfer des neudeutschen Nationalismus geworden war, der sie, um mit Christian Morgenstern zu reden, zu einem „reinen deutschen Gegenstand“ und zu einem Symbol approbierter Deutschtümelei gemacht hatte.
Wir erinnern uns noch sehr wohl der Zeit, da jedem, den dieses spießige und anmaßende Treiben abstieß, mit der Ablehnung der patriotischen Frakturphilosophie ein Widerwille gegen ihr Opfer, nämlich die Fraktur, nahezu aufgezwungen wurde. Daß wir als Kinder neben der lateinischen noch die krakelige „deutsche“ Handschrift erlernen mußten, war gewiß ein Schicksal, das wir auch mit den deutschen Klassikern hatten teilen müssen. Aber wir hatten doch immer das Gefühl, daß es sich um einen höchst überflüssigen Zopf handelte, und wir haben keinen Anlaß, ihm nachzutrauern. Mit der Fraktur als Druckschrift stand es anders. War Fraktur zu schreiben für uns eine Qual, so kann es doch niemals ernstliche Mühe kosten, sie im Druck zu lesen. In diesen gotischen Lettern hatten wir zum erstenmal die Bibel und die Grimmschen Märchen gelesen; in Fraktur waren das Gesangbuch, der Volkskalender und das meiste andere gedruckt, was dem Geist und dem Gemüt des Kindes als erste Nahrung gedient hatte. So schlossen wir mit diesen lustigen Schnörkeln Freundschaft, und daran hätten wir uns gern genügen lassen. Warum mußte man uns obendrein damit in den Ohren liegen, daß dies nun die echt „deutsche“ Schrift sei, der man aus Patriotismus den Vorzug geben müsse?
Mit Schaudern erinnern wir uns, welche Blüten dieser typographische Nationalismus trieb. Dem Reichstagsgebäude fehlte jahrzehntelang die vorgesehene Inschrift „Dem deutschen Volke", weil man sich nicht über die Schriftart einigen konnte, obwohl doch für diesen monumentalen Zweck die Antiqua allein angebracht gewesen wäre. Ein Berliner Verleger, mit dem ich zu korrespondieren hatte, war gar auf den Gedanken verfallen, sich eine Schreibmaschine mit Frakturbuchstaben bauen zu lassen und damit selbst dieser nüchternsten Form der Mitteilung eine bekenntnishafte Spitzwegnote zu geben, die mit dem Inhalt seltsam genug kontrastierte. Es gab Gelehrte, die ihre Treue zu Hugenberg sogar im Fraktursatz ihrer Schriften glaubten zum Ausdruck bringen zu sollen, und es war symbolisch, daß eine der führenden nationalökonomischen Zeitschriften unter einem neuen Herausgeber in gotischen Lettern erschien, der gleichzeitig dem seltsamen Ehrgeiz frönte, eine Konjunkturtheorie unter pedantischer Verdeutschung jedes Fremdworts zu schreiben. Dieser nationalistische Kultus der Fraktur lag in der Tat auf derselben Ebene wie der Purismus, der aus einer Frage des guten Geschmacks ein politisches Programm machte. Es war derselbe Kampf für das „Arteigene“, wie man es nannte, und gegen den „welschen Tand“, der wenig mehr mit der immer achtenswerten Bewahrung ehrwürdiger Tradition zu tun hatte, ja sie kompromittierte. Gleich der stereotypen Formel „Mit deutschem Gruß!“ war er nur ein weiterer Ausdruck der deutschen Trotzneurose. Er entsprach einer Gesinnung, die ein neudeutscher Barde mit dem nicht gerade urgermanischen Namen Bogislaw von Selchow zu folgenden fürchterlichen Versen – würdig in eine Sammlung der hundert schlechtesten deutschen Gedichte aufgenommen zu werden – begeistert hatte:
Ich bin geboren, deutsch zu fühlen,
Bin ganz auf deutsches Wesen eingestellt,
Erst kommt mein Land und dann die andern vielen,
Erst meine Heimat, dann die Welt.
Dies unfreiwillig komische Reimgeklingel war in einer Sammlung erschienen, die den Titel trug „Von Trotz und Treue“. Es hing als Spruch an ungezählten deutschen Wänden – und natürlich war es in „deutscher“ Schrift gedruckt.
Man hätte uns die Fraktur nicht wirksamer verleiden können. Ihre unsachliche und leidenschaftliche Anpreisung mußte fast mit Notwendigkeit zu einer ebensolchen Anlehnung führen und damit selbst auf diesem verhältnismäßig unwichtigen Gebiete die Gefahr heraufbeschwören, daß auch das, was an der deutschen Tradition achtenswert, ja ehrwürdig war, der Welt von den Teutomanen widerwärtig gemacht wurde. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob wir ihnen das weiterhin erlauben wollen und ob wir nicht auch in der Diskussion um die Fraktur zu einer freien und sachlichen Würdigung zurückkehren können, die über den typographischen Nationalismus der jüngsten deutschen Vergangenheit mit einem ironischen Lächeln hinweggeht. Das wird uns nicht nur durch die so völlig gewandelte Gesamtlage, sondern auch durch den seltsamen Umstand erleichtert, daß gerade im Dritten Reiche die Antiqua gegenüber der Fraktur vielfach begünstigt worden war. Möglicherweise dürfen wir darin den typographischen Reflex des Uebergangs von der deutschnationalen Autarkie zum nationalsozialistischen Imperialismus erblicken, dem weniger daran lag, sich von der Welt trotzig zu isolieren, als sich ihr aufzudrängen und sie zu erobern. Jedenfalls hat uns damit der Nationalsozialismus den Dienst geleistet, uns von ängstlichen Bedenken zu befreien, wenn wir heute für die biederen Lettern, die uns als Kindern zuerst den Zauber des gedruckten Wortes erschlossen, ein gutes Wort einlegen möchten.
Es scheint uns tatsächlich an der Zeit, auszusprechen, daß derjenige, der die Fraktur als „deutsch“ ablehnt, genau so unrecht hat wie derjenige, der sie als „deutsch“ preist. In beiden Fällen handelt es sich um ein arges Mißverständnis, ähnlich dem Versuch, die Gotik, aus deren Geist und Stil die Fraktur hervorgegangen ist, ihrem Ursprung und Wesen nach in erster Linie für Deutschland in Anspruch zu nehmen. Man ist sich gewiß heute darüber einig, daß die Gotik als Formwelt des im Mittelalter aufstrebenden Bürgertums gleich diesem eine gesamteuropäische Erscheinung gewesen ist und daß der Ruhm, ihre Geburtsstätte zu sein, am ehesten Frankreich gebührt. Die Fraktur ist eine der Varianten der gotischen Schrift, und wem das zur Ehrenrettung nicht ausreicht, der sei daran erinnert, daß der Geist der Gotik als derjenige des vom Feudalismus sich befreienden städtischen Bürgertums der Geist einer der größten und stolzesten Epochen der europäischen Kultur gewesen ist und daß etwas von ihm noch immer aus den eckigen Schnörkeln der Fraktur zu uns spricht. Wir brauchen uns wahrlich nicht zu schämen, uns weiterhin zu dieser graphischen Ueberlieferung zu bekennen, auch wenn in Europa die Zahl der Bekenner immer kleiner geworden ist und sich außerhalb des deutschen Sprachgebiets der Gebrauch der gotischen Schrift auf Wirtshausschilder, Weinetiketten oder Zeitungstitel beschränkt. Man braucht sich nicht einmal des Gefühls zu schämen, daß der Fraktur etwas Warmes und Treuherziges anhaftet und daß sie in bestimmten Fällen das allein angemessene Schriftkleid sein dürfte. Täuschen wir uns ganz und gar, wenn sie uns zuweilen nach Brezeln und Lebkuchen zu duften scheint?
Die Antiqua ist am Platze, wo es auf nüchterne Klarheit, klassische Strenge, Präzision, Monumentalität, Rationalität oder geistige Universalität ankommt, und es ist sehr begreiflich, wenn sie auch einer Zeitung angemessen erscheint, die heute zu einem Hauptinstrument der deutschen Sprache im Orchester der öffentlichen Meinung der Welt geworden ist. Aber es wäre schade, wenn dieser Schritt der Meinung Vorschub leisten würde, als sei die Fraktur eine jener Eigenarten, deren man sich zu schämen hätte, statt eine jener anderen, die man pietätvoll bewahren sollte, ohne aus ihr einen lächerlichen Kult zu machen. Die Welt wird, soweit sie nicht zusehends elender wird, ohnehin zusehends langweiliger und einförmiger. Würde die Fraktur aus dem deutschen Sprachgebiet verschwinden, so ginge wieder ein Stück Buntheit und Mannigfaltigkeit dahin. Die Zeit, da uns ein Absolutismus der Fraktur lästig fiel, ist vorbei. Es kann sich nur noch darum handeln, ihr den bescheidenen Platz, den Geschmack, Traditionssinn und Freude am Bunten ihr zuweisen möchten, in der Zeit einer alles glattwalzenden Weltzivilisation zu wahren.
Die Fraktur ist gewiß keine größere Eigenbrötelei als das Festhalten der Engländer an ihrer Orthographie, ihrem Duodezimalsystem und ihren Gewichtseinheiten. Wir glauben sogar, daß sie weit weniger lästig und abschließend wirkt. Wir, die wir auf der Schulbank die Fraktur mühsam haben lernen müssen, schmeicheln uns zwar gern, daß es für einen Ausländer nicht leicht sein müsse, sie zu lesen, aber nach meinen Erfahrungen handelt es sieh hier zum mindesten um eine starke Uebertreibung, und neben der Schwierigkeit, die deutsche Sprache überhaupt zu erlernen, kommt die Unbequemlichkeit der Fraktur ernstlich nicht in Betracht Es läßt sich sogar die Behauptung begründen, daß die Fraktur durch ihre Unregelmäßigkeit und Lebhaftigkeit die Aufmerksamkeit weniger ermüdet als der ruhige Fluß der Antiqua, wie denn ja auch gotische Ziffern mit Nutzen für Logarithmentafeln verwendet werden.
Wie dem aber auch sei: Ich glaube nicht, daß mein Genfer Tischnachbar im Berghotel die geringste Mühe hat, das Frakturetikett „Châteauneuf – du Pape“ auf seiner Weinflasche zu entziffern, und damit einen anderen Gedanken verbindet als den behaglich stimmenden an Rabelais und Pantagruel. Was aber mich betrifft, so weckt die Frakturaufschrift auf meiner Flasche Apfelmost die nicht minder behagliche Vorstellung eines behäbigen Berner Bauernhauses. Lese ich nachher einen – natürlich in Fraktur gedruckten – Roman von Wilhelm Raabe, so denke ich nicht nur an die alten gotischen Straßen Braunschweigs oder Hildesheims und an alle anderen Herrlichkeiten, die auf immer in Schutt und Asche gesunken sind; ich denke auch an die alten Marktplätze Schaffhausens, und Luzerns und schließlich an die Zeit, da eine ungelenke Kinderhand zum erstenmal diese lustigen Buchstaben mit ihren Erkern, Giebeln und Spitzbogen nachahmte. Wollen wir die Welt mit Gewalt noch ärmer machen, als sie ohnehin schon geworden ist? Wollen wir uns auch darin noch die Hand führen lassen von einem verstockten deutschen Kulturnationalismus, über den die Zeit erbarmungslos hinweggeschritten ist?