Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Die enthauptung der hauptwörter
Von Otto von Greyerz
Seitdem die frage der schreibreform wieder in fluss gekommen ist, richtet sich der ansturm der neuerer vor allem gegen die grossen anfangsbuchstaben der hauptwörter. Ist es bloss eine laune des demokratischen zeitgeistes, der wahn der allgemeinen gleichmacherei, der nicht dulden kann, dass die wörter einer bestimmten klasse eines hauptes länger seien als die andern?
Die bewegung geht von der lehrerschaft aus. Das muss man wissen, um den guten sinn, den sie hat, zu begreifen. Die volksschullehrer leiden am meisten von allen berufsarten unter den schikanen unserer rechtschreibung; sie haben die saure pflicht, die kinder an ein system von schreibregeln zu gewöhnen, das weder den kindlichen verstand noch die logik des reifen menschen befriedigen kann. Niemand wie der lehrer erfährt tag für tag die logische unzulänglichkeit unserer spitzfindigen unterscheidung zwischen gross und klein zu schreibenden wörtern. Eine unendliche zeit, mühe und gute laune muss diesem hauptgötzen der rechtschreibung geopfert werden. Was ist denn ein hauptwort? Auf diese frage müsste doch einer, der so viel wesens aus dieser wortgattung macht, klipp und klar antworten können. Aber wer von uns kann es? Der gelehrte Gottsched, der den namen «hauptwort» in die deutsche grammatik eingeführt hat (1757), gibt folgende tiefsinnige erklärung:
«Wenn das nennwort eines dinges, für sich allein gesetzt, einen völligen gedanken machet; oder eine sache bedeutet, die für sich besteht, oder doch in gedanken, als für sich bestehend angesehen wird: so wollen wir es ein hauptwort (nomen substantivum) nennen.»
Dieser satz, der mit seinen begrifflichen voraussetzungen mehr fragen weckt, als dass er eine antwort gibt, wird nicht einmal einem lehrer, geschweige einem kind, etwas helfen.
Hand aufs herz, wenn wir's nicht aus der erfahrung jahrelanger lese- und schreibgewohnheit wüssten, was wir gross und was klein schreiben sollen, wir könnten lange auf eine in allen zweifelsfällen stichhaltige regel warten.
Und nun verlangen wir von kindern, die diese erfahrung nicht haben .und denen wir auch keine zuverlässige regel geben können, dass sie über gross- und kleinschreibung so gut bescheid wissen sollen wie wir! Ja, wir geben uns sogar den anschein, als besässen wir das tiefere geheimnis, den philosophischen schlüssel des gross- und kleinschreibens. Da erklären die einen: gross schreibt man, was einen artikel hat — oder haben kann, und vergessen, dass jedes wort einen artikel haben kann: das Ich, das Hundert, das Wenn und das Aber, das Hätt ich und das Möcht ich, dieses Stirb und Werde! usw. Die andern erklären etwa, gross schreibe man die hauptsächlichen wörter im satze, darum hiessen sie eben hauptwörter; danach müsste jedes denkende kind schreiben: es Regnet; ich sehe Nichts; eins und eins macht Zwei. Noch andere erkühnen sich zu sagen, das gross zu schreibende wort bezeichne ein ding und heisse darum richtiger dingwort. Also denn, z. b. Mutter, Eltern, der Geist, das Gewissen, die Zukunft, das Schweigen, das Wiedersehen, das Äussere, das Nichts — das wären solche dinge! Glaubt einer im ernst, einem hellen kinderverstand damit zu imponieren?
Die mutter soll ein ding sein? Der geist, das ausgesprochene unding, soll ein ding sein?
Die forderung der lehrerschaft, die kinder wenigstens im elementarunterricht mit diesen logischen haarspaltereien zu verschonen und sie alle wörter gleichmässig klein schreiben zu lassen, auch die fibel dementsprechend umzugestalten, sollte anerkannt und befolgt werden, lieber heute schon als erst morgen.
Allein der schriftreformer geht weiter: die grossbuchstaben sollen überhaupt abgeschafft werden, nach den einen ganz und gar, nach den andern mit ausnahme der eigennamen und der satzanfänge, also wie in diesem aufsatze. Das geht nun vielen über die hutschnur! Man mag lange darauf hinweisen, dass die meisten kulturvölker längst diese einfache lösung gefunden haben und dass wir uns beim englisch-, holländisch-, französisch-, italienisch- usw. lesen und schreiben nicht daran stossen — das gefühl will nicht mit.
Weh dem, der an den würdig alten hausrat ihm rührt, das teure erbstück seiner ahnen!
Mit diesem gefühl wird man rechnen müssen, denn es ist weitverbreitet und stärker als die vorgebrachten vernunftgründe. Prüfen wir diese gründe! Die grossschreibung der hauptwörter, hat man vorgebracht, ist das ergebnis einer jahrhundertelangen entwicklung, in deren verlauf sich die schrift den besonderen anforderungen unserer sprache angepasst hat. Sehr weit zurück geht aber diese anpassung nicht. Sie beginnt im 16. jahrhundert und gelangt erst im lauf des 18. zum abschluss. Einige proben mögen das allmähliche aufkommen der grossschreibung veranschaulichen.
Um 1420, Justingers bernerchronik
In dem jare do man zalte thusent hundert nüntzig ein jar, do wart Bern gestiftet von hertzog Berchtold von Zeringen, und wurden vil hüser gebuwen mit dem holtze, das uf der hofstat stuond, darumb wart ein sprächwort: holtz las dich houwen gern, die stat muoss heissen Bern.
1507, Etterlins schweizerchronik
Es suogt sich uff ein mal, das der Landtvogt genant der Grissler gan Ury fuor, Unnd als er do ettwas zytt wonet, Lyess er eynen stecken under die Linden da mengklich für gan muost, uff stecken, leit eynen huot daruff, unnd hat darvy stätz einen knecht sytzen, der herr lyess eyn pott tuon und ussruoffen offentlichen, wer der were, der da fürgienge der söllte dem huot Reuerentz tuon ...
1615, Bernische gerichtssatzung
Zwüschen unser Kilchen, ond dem Bach soll niemands weder Holtz, Stein, Buw, noch ander ding thun, noch legen, dessglychen soll niemands an derselben Gassen zu der zyt, so man das Göttlich Wort verkündet, als lang die Predigt wärt, und die kettenen uber die Gassen gespannen sind, rytten, fahren, klopffen, noch sonst einich ander gethämmer machen ...
1748, Bernische Prädikantenordnung
Weil, nach Christlicher und gottseliger Übung, die kirchen samt ihren Gebräuchen erhalten, und die Armen verpflegt werden sollen: So befehlen Wir allen Predigeren, dass sie den Kirchen- und Allmosen-Rechnungen beywohnen, und wohl zusehen, dass keine unnöthige Kösten gemacht, das Kirchengut durch Mahlzeiten nicht geschwächt, und alles Ehrbarlich, und ohne Gekehrd, verrechnet werde.
Wie man sieht, ist der gebrauch der grossbuchstaben von den eigennamen ausgegangen und hat sich von da auf höhere standestitel, dann auf gewichtige wörter überhaupt ausgedehnt, wobei ganz nach kindlicher logik auch beiwörter und zeitwörter gelegentlich mit einem grossen anfangsbuchstaben ausgezeichnet wurden. Es ist lehrreich und tröstlich zu sehen, wie lange es ging, bis der schwankende gebrauch sich zur allgemeinen regel festigte. Jedermann weiss, dass die regel noch weit davon entfernt ist, allgemein gehandhabt zu werden. Man denke nur an tifteleien wie: am besten, nicht zum besten, zu deinem Besten, zum Besten der Armen, der erste beste, der Beste in der klasse usw. Oder: zur Zeit, derzeit, vorzeiten, eine Zeitlang, zeitlebens, zeit meines Lebens usw., wie der Duden vorschreibt. Sattelfest ist in diesen spitzfindigkeiten eigentlich niemand ausser wer den Duden zur hand hat. Der verzicht auf die grossen anfangsbuchstaben (mit ausnahme der eigennamen und satzanfänge) wäre also kein bruch mit einer jahrhundertelang bewährten regel, sondern eine rückkehr zu der schreibweise, die bis tief ins 16. jahrhundert allgemein gegolten hat und (ausser im deutschen und dänischen) heute noch allgemein gilt. An der grossschreibung der eigennamen ist schon deshalb festzuhalten, weil die besitzer, die darüber zu verfügen haben, widerstand leisten würden. Auch das grossschreiben der satzanfänge sollte man der grösseren deutlichkeit und übersichtlichkeit wegen nicht fahren lassen. Ferner muss dem schreibenden die freiheit eingeräumt werden, grosse buchstaben anzuwenden, wo ohne sie ein missverständnis entstehen könnte; so z. b. zur auszeichnung der höflichkeitsformen Sie, Ihr, Ihnen, Ihrer, die auch in der gesprochenen sprache manchmal zu missverständnissen führen; so auch zur unterscheidung vieldeutiger wortformen, die im deutschen sehr zahlreich sind und, zumal in knapper dichterischer satzbildung und freier wortstellung, die deutung erschweren.
Dass solche fälle in der gewöhnlichen prosa zwar hin und wieder, aber im ganzen doch selten vorkommen, kann ich aus mehr als dreissigjährigern gebrauch grundsätzlichen kleinschreibens feststellen.
Allein es wird auch geltend gemacht, die grossschreibung sei im deutschen unentbehrlich wegen der stets anwachsenden menge langer zusammengesetzter wörter; das schriftbild solcher ungetüme gewinne durch einen grossen anfangsbuchstaben an deutlichkeit. Gross ist dieser gewinn jedenfalls nicht; und wenn er es wäre, so möchte ich erst recht wünschen, dass die kleinschrift ein schutzmittel gegen das überwuchern solcher wortungeheuer abgäbe. Denn es handelt sich hier nicht um einen anerkannt guten brauch, sondern um einen anerkannt schlechten brauch der deutschen sprache. Aus dem gleichen grunde scheint mir auch der andere einwand hinfällig: die deutsche sprache könne die gross geschriebenen hauptwörter nicht entbehren, weil ihre satzgebilde oft so umfänglich und verwickelt seien, dass der leser äussere anhaltspunkte brauche, um übersicht zu gewinnen. Dass gerade die hauptwörter dazu dienlich seien, möchte ich bezweifeln; denn nicht auf ihnen, sondern auf den zeit- und bindewörtern ruht das gerüst des satzes. Aber gesetzt, es wäre anders, so müssten wir die kleinschrift willkommen heissen, wofern sie imstande wäre, den schreibenden zu grösserer kürze und einfachheit in der satzbildung anzuhalten.
Doch, wie gesagt, nicht verstandesgründe, sondern gefühle vor allem stehen der neuerung im wege. Das herkömmliche, altvertraute schriftbild hat gefühlswerte, ganz ähnlich wie das lautbild; nur ist das auge, nicht das ohr, der vermittler solcher gefühle. Dem kinde sind diese gefüh1e noch fremd; darum eignet sich die reform auch am besten zur einführung in der schule. Je älter der mensch ist und je tieferen gemüts, desto weniger leicht trennt er sich gern von den anschauungsformen, die ihm durch liebe lange gewohnheit zu trägern von gefühlswerten geworden sind. Es ist klar, dass solche gefühlswerte vor allem an der gefühlsbetonten sprache haften, und dass ein neues schriftgewand viel weniger anstoss erregt in einem wissenschaftlichen werk, einer statistischen arbeit oder einem amtlichen schriftstück als in einem gedichtbuch, einer erzählung oder auch in einem privatbrief. Von da aus lässt sich schon ungefähr der weg absehen, den die schreibreform nehmen könnte. An eine plötzliche und allgemeine durchführung ist gar nicht zu denken.
Das liegt aber nicht bloss an den widerstrebenden gefühlen, sondern an viel greifbareren, viel weniger wandelbaren dingen. Man stelle sich nur die wirkung vor, die eine noch so bescheidene reform wie die kleinschreibung im buch- und zeitungsgewerbe haben müsste. Jeder verleger, der auf ein grosses absatzgebiet angewiesen ist, wird sich hüten, in seinen verlagswerken eine neuerung durchzuführen, die den absatz gefährdet. Hier befiehlt das publikum, das zahlt. Wenn ihm die neue schreibreform nicht passt, so refüsiert es eben die sendung. Ein zeitungsverleger, ein verlagsbuchhändler, ein buchdrucker wird nur dann zur kleinschreibung übergehen, wenn er nicht gefahr läuft, deshalb eine grosse zahl von abnehmern zu verlieren. Die neuerung lässt sich also, abgesehen von privatbriefen, am besten in vereinsorganen einführen, deren abnehmer der reform geneigt sind, ebenso natürlich in amtlich zugelassenen lehrmitteln.
Wenn sich die kleinschreibung in solchen engeren bezirken bewährt, wenn insbesondere die lehrerschaft und die angehörigen wissenschaftlicher berufsarten dafür gewonnen sind, kann sie sich immer grössere kreise, zeitschriften, vereinsorgane, wissenschaftliche nachschlagwerke und dergleichen erobern. Nur erwarte man kein rasches tempo! Nur bedenke man, dass geschrieben noch nicht gesetzt ist, und dass die setzer sich dafür bedanken werden, heute so und morgen anders, dieses mit grossschrift und jenes mit kleinschrift zu setzen. Und dieses durcheinander steht für die übergangszeit bevor und ist unvermeidlich. Anderseits sehen ja auch die setzer und buchdrucker die erleichterung und verbilligung der arbeit wohl ein, die die reform, einmal durchgeführt, für sie bedeuten würde. Eine umfrage der «Graphia», des organs der leitenden angestellten schweizerischer graphischer betriebe, hat denn auch im allgemeinen zustimmung zur kleinschrift ergeben. Man verspricht sich von ihr eine erleichterung der arbeit. «Während man einen buchstaben», heisst es dort, «aus einem versalfach holt — versalien sind grossbuchstaben —, hat man zwei gemeine gesetzt. Noch mehr kommt dies beim maschinensatz zum ausdruck.»
Nächst den setzern sind es die maschinenschreiber, die den vorteil der kleinschrift verspüren werden. Eine kleine, naheliegende rechnung möge das klar machen. Auf einer seite meines aufsatzes in maschinenschrift zähle ich bei gewöhnlicher schrift 64 grossbuchstaben, bei anwendung der kleinschrift (ausser eigennamen und satzanfängen) nur 11. Ich erspare mir also 53 umschaltungen!
Man sollte meinen, alle maschinenschreibenden leute müssten die kleinschreibung mit freuden begrüssen. Allein so gross ist die macht der gewohnheit, dass sie auch hier dem mit händen zu greifenden fortschritt im wege steht. Man bekommt hier dieselbe antwort zu hören, die ein lehrer von seinen schülerinnen, die er deshalb befragte, wenigstens von einigen, bekam: «Es wäre ja schon schön, aber bis ich mich gewöhnt habe … Ich bleibe doch lieber beim alten.» Und doch ist das umlernen nirgends leichter als hier. Wer hauptwörter durch grosse anfangsbuchstaben auszeichnet, muss nachdenken, was hauptwort ist und was nicht; wer alles klein schreibt, braucht nicht nachzudenken. — Kann eine reform weniger verlangen?
Viele freunde der kleinschreibung sind aber mit diesem ersten vorstoss gegen die herrschende rechtschreibung nicht zufrieden. Sie glauben, es müsse ein umsturz von grund aus sein. Über diesen plan lässt sich später wieder reden, wenn einmal die hunderte von vorschlägen zur «orthographie der zukunft» sich auf ein ganzes oder ein halbes dutzend vermindert haben; sagen wir etwa — in fünfzig jahren. Heute gehen die ansichten der reformer noch nach allen richtungen auseinander. Die einen wollen grundsätzlich vereinfachen; den andern kommt es auf ein halbes oder ganzes dutzend neuer schriftzeichen nicht an. Die einen träumen von einer lautgetreuen schrift und vergessen, dass dazu eine einheitliche aussprache des deutschen die voraussetzung wäre. Einer solchen vereinheitlichung, zumal wenn sie, wie die bühnenmustersprache, von Norddeutschland ausginge, würde sich das oberdeutsche sprachgefühl borstig widersetzen, das alemannische wahrscheinlich am borstigsten.
Aus «O mein Heimatland», schweizerische kunst- und literaturchronik,
Abgedruckt in der «Rechtschreibung» nr. 90, august 1969