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presseartikel2024-10-23 → Warum ist die Rechtschreibreform irreparabel?
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Warum ist die Rechtschreibreform irreparabel? Analyse durch die SOK nach 28 Jahren.

In: Zurück an den Start!, , s. 1343.

Mit unseren anmerkungen

1. Wie gut sind Ihre Rechtschreibkenntnisse?

Liebe Leserin, lieber Leser!

Sind Sie sattelfest in Gross- und Kleinschreibung? Testen Sie sich mit folgendem Beispielsatz:

Sonjas jüngere Brüder Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege, der Erste / erste wurde Beamter, der Zweite/ zweite hatte als Schauspieler Erfolg.

«Wenn Sie schon etwas älter sind, haben Sie gelernt …» Haben wir wirklich? War früher alles besser?

Wenn Sie schon etwas älter sind, haben Sie gelernt, dass man der erste, der zweite usw. klein schreibt. Wenn Sie die deutsche Rechtschreibung hingegen ums Jahr 2000 oder später gelernt haben, werden Sie hier ziemlich sicher zur Grossschreibung neigen. Und weil die Rechtschreibreform 1996 und die Reform der Reform 2006 uns alle mehr oder weniger stark beeinflusst haben, sind wir heute alle nicht ganz sicher.

Hingegen sind wir uns alle sofort einig, dass in der folgenden, minimal veränderten Version des Satzes klein geschrieben wird:

Sonjas jüngere Brüder Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege, einer / der eine wurde Beamter, der andere hatte als Schauspieler Erfolg.

Was in den von der Reform betroffenen Bereichen der Rechtschreibung heute gilt, ist im amtlichen Regelwerk festgelegt, das auf der Homepage des «Rats für deutsche Rechtschreibung» (recht­schreib­rat.com) kostenlos zur Verfügung steht. Der Rat ist, so lesen wir dort, die «zentrale Instanz in Fragen der Rechtschreibung» und der «Garant für die Bewahrung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum». Er hat soeben (im Juli 2024) «eine grundlegende Neubearbeitung» des Regelwerks (mit Wörterverzeichnis, hier: WV) publiziert.

Darin finden wir nicht nur in §58(5) die Bestimmung, dass «(der, die, das eine, (der, die, das) andere» klein geschrieben wird (was von jeher gegolten hat), sondern auch zwei Bestimmungen, von denen wir uns Hilfe für unsere Unsicherheit bei der Erste / erste und der Zweite / zweite erhoffen können. In §58(1) wird folgendes Beispiel für obligatorische Kleinschreibung gegeben:

Zwei Männer betraten den Raum; der erste trug einen Anzug, der zweite Jeans und Pullover.

Daraus werden Sie nun ohne Zweifel ableiten, dass in unserem gleich gebauten Satz ebenfalls klein geschrieben werden muss: Sonjas jüngere Brüder Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege, der erste wurde Beamter, der zweite hatte als Schauspieler Erfolg. Denn der erste und der zweite beziehen sich als Adjektive auf Sonjas jüngere Brüder Arthur und Armin, wie im Beispielsatz auf zwei Männer, also: der erste (Bruder), der zweite (Bruder), genau wie der erste (Mann), der zweite (Mann).

Leider müssen wir Sie enttäuschen, wir haben uns zu früh gefreut! In §57(1) steht nämlich folgendes Beispiel für obligatorische Grossschreibung:

Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege: Der Erste / Ersterer wurde Beamter, der Zweite / der Letzte / Letzterer hatte als Schauspieler Erfolg.

Warum schreibt das Regelwerk hier nun plötzlich Grossschreibung vor? Der Grund ist ohne Zweifel folgender: Für die Reformer, die diese Grossschreibung 1996 (aus dem Nichts!) eingeführt haben, lässt das Namenspaar Arthur und Armin nicht zu, dass wir der erste und der zweite auf sie beziehen und klein schreiben. Dass Arthur und Armin zusammen einen Plural «zwei Männer» bilden und wir sie beide miteinander ins Auge gefasst haben, spielt keine Rolle. Wir dürfen sie nur einzeln betrachten und müssen der Erste (für den einen) und der Zweite (für den anderen) als Substantive auffassen und gross schreiben, fast wie hier:

Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege: Der Pedant wurde Beamter, die Plaudertasche hatte als Schauspieler Erfolg.

Die Reformer würden uns ohne Zweifel sogar in unserem Eingangssatz verbieten, der erste und der zweite auf das Wort Brüder zu beziehen und klein zu schreiben. Sie würden sagen, Arthur und Armin seien die Bezugswörter, nicht Brüder. Streng formal gesehen hätten sie vielleicht sogar recht. Aber die Argumentation kommt uns weltfremd vor, denn es gilt doch: Arthur und Armin = Sonjas jüngere Brüder. Warum sollten wir also diesen Bezug auf Brüder nicht herstellen und klein schreiben dürfen? Kurzum, die strenge Unterscheidung zwischen substantivischem Gebrauch (gross) und adjektivischem Gebrauch (klein), die die Reformer hier machen und in der Rechtschreibung partout ausgedrückt sehen wollen, ist künstlich.

Das wird noch deutlicher, wenn wir mit dem Satz ein wenig «spielen». So müssen wir mit der folgenden Formulierung nach §58(1) klein schreiben, weil nun ein Bezugswort vorhanden ist (Brüder):

Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege: der erste der Brüder wurde Beamter, der zweite hatte als Schauspieler Erfolg.

Dagegen werden uns die Reformer in der nächsten Version zweifellos wieder nur die Grossschreibung durchgehen lassen, weil sie beide nicht als Bezugswort akzeptieren:

Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege: der Erste der beiden wurde Beamter, der Zweite hatte als Schauspieler Erfolg.

Das Regelwerk gibt in seinem Beispielsatz neben der Erste und der Zweite auch die Alternative Ersterer und Letzterer. Dazu kommt noch der Erstere und der Letztere. Auch diese müssten laut Reform je nach Vorhandensein eines Bezugswortes gross oder klein geschrieben werden:

Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege: Ersterer / der Erstere (der beiden) wurde Beamter, Letzterer / der Letztere hatte als Schauspieler Erfolg.

Arthur und Armin gingen unterschiedliche Wege: von den beiden ungleichen Brüdern wurde ersterer / der erstere Beamter, letzterer / der letztere hatte als Schauspieler Erfolg.

Wie viel einfacher (und moderner) war doch die herkömmliche Rechtschreibung, laut welcher alle diese Zahladjektive grundsätzlich klein ge­schrie­ben wurden: der eine, der andere, der erste, der zweite, der dritte, der letzte, der erstere, der letztere, ersterer, letzterer. Und sie verhinderte Peinlichkeiten wie die folgende, die Theodor Ickler, Germanistikprofessor an der Universität Erlangen-Nürnberg, amüsiert berichtet (Kommentar im Herbst 2014 in sprachforschung.org):

Die Ersten in der CDU flirten schon mit der AfD (welt.de 29.5.2014). Nach herkömmlicher Rechtschreibung wäre darunter die Parteiführung zu verstehen. Diese Feinheit ist jetzt verloren. Einige Stunden später hieß es an derselben Stelle: Die ersten in der CDU flirten schon mit der AfD.

Die korrigierte Schreibung aber ist herkömmlich und seit 1996 falsch!

Was ist da bei der Reform schiefgelaufen? Dies zu verstehen ist gar nicht so schwer. Die treffendste generelle Aussage dazu stammt aus dem Jahr 2013 und aus höchst berufenem Mund: «Im Rückblick muss man sagen, dass die Rechtschreibreform kein Ruhmesblatt war und ist, weder für die Politik noch für die Wissenschaft.» Auf die politische Seite des Zitats kommen wir später zurück. Zuerst wollen wir der Wissenschaft auf die Finger schauen!

2. Der fundamentale Missgriff der Reformer bei der Gross- und Kleinschreibung

Das Problem hinter der heutigen, hochkomplizierten Gross- und Kleinschreibregelung (nicht nur bei den Zahlwörtern) ist ein dreifaches: erstens eine neue Definition, was als «Substantivierung» gelten soll, zweitens die Bestimmung, dass die betreffenden Fälle im Prinzip gross geschrieben werden müssen, und drittens die zahlreichen und prominenten Ausnahmen von dieser Grossschreibung. Für Nicht-Linguisten: Der Fachausdruck «Substantivierung» bedeutet ganz einfach «Verwendung eines Nicht-Substantivs als Substantiv». Beispiele kennen Sie alle: das höchste Gut, eine Drei, sein Ego, vor dem Essen, das Reformierte reformieren.

Für die Reformer ist Substantivierung etwas rein Formales, das man am besten an vorangehenden Wörtern erkennt, vor allem am Artikel der, die, das, des, dem, den, ein, eine, eines, einer, einem, einen (§57, a–b). Dieses Prinzip haben sie jedoch in übereifriger Weise ad absurdum geführt. So ist für sie zum Beispiel voraus im Ausdruck im voraus automatisch eine Substantivierung (wegen im = in dem) und folglich gross zu schreiben. Schon dieser Fall verstösst gegen jedes Sprachgefühl dafür, was ein Substantiv oder etwas Substantivähnliches ist. Was ist denn ein «Voraus»? Wir haben volles Verständnis für alle Jugendlichen, die denken: Wenn «Voraus» gross geschrieben werden muss und «ich» klein, dann kann mir die Gross- und Kleinschreibung gestohlen bleiben!

Die Grossschreibung im Voraus wurde aber durchgesetzt und seine Kleinschreibung 2006 nicht wieder erlaubt, ebenso bei im Nachhinein, im Übrigen, des Öfteren, des Langen und Breiten usw. Das Regelwerk nennt in §57(1) und im WV über vierzig Ausdrücke mit solchen unechten Substantiven. Alle wurden sie mithilfe der neuen, formalistischen Definition der Substantivierung von der herkömmlichen Kleinschreibung auf Grossschreibung umgepolt. Oft ragen ihre Grossbuchstaben nun regelrecht aus dem Satz heraus. So schrieb eine Liechtensteiner Studentin vor Jahren über die Schweizer: Wenn sie aber jemanden näher kennengelernt haben, sind sie im grossen und ganzen nett und freundlich. Heute würde ihr Satz lauten: Wenn sie aber jemanden näher kennengelernt haben, sind sie im Grossen und Ganzen nett und freundlich. Was fällt dem banalen Ausdruck im grossen und ganzen eigentlich ein, denken wir entrüstet, sich so aufzuplustern?

Neben denjenigen in §57(1), die heute gross zu schreiben sind, haben die Reformer viele weitere, teilweise besonders häufige Fälle identifiziert, die – immer gemäss ihrer Definition – «formale Merkmale von Substantivierung aufweisen». Deren Gross­schreibung würde unser Sprachgefühl jedoch so vehement verletzen, dass sie sie nicht offen vorzuschlagen wagten. Sie mussten diese Fälle somit allesamt zu Ausnahmen erklären (§58). Es sind:

(1)

Die zahllosen Fälle von «Adjekti­ve[n], Partizipien und Pronomen, die sich auf ein vorhergehendes oder nach­stehendes Substantiv beziehen», z. B. Vor dem Haus spielten viele Kinder, einige kleine im Sandkasten, die grösseren am Klettergerüst; oder im oben, Kap. 1, genannten Satz der erste und der zweite, die sich auf Männer beziehen.

(2)

Der Superlativ (höchste Steigerungsform) des Adverbs, z. B. schön zeichnen schöner zeichnen am schön­sten zeichnen. Er bildet den weitaus häufigsten Fall unter den Ausdrücken, die mit Präposition + Artikel beginnen (am = an dem) und, wie gesagt, in §57(1) untergebracht sind. In aufs schönste, aufs herzlichste ist die herkömmliche Kleinschreibung auch noch geduldet, in aufs neue, fürs erste, nicht im geringsten aber nicht mehr, und ebensowenig in es steht damit nicht zum besten / du willst mich wohl zum besten halten / sie gab ihre neueste Theorie zum besten. Was ist denn dieses «Beste» für ein grandioses Substantiv, dass wir es heute gross schreiben müssen? Kein Wunder, war es vor dreissig Jahren gerade dabei, endgültig zur Kleinschreibung überzugehen. Doch da kamen die Reformer und drehten die Entwicklung wieder um.

(4/5)

Die häufigen Fälle ein jeder, ein jeglicher, ein solcher, ein wenig, ein bisschen, das wenige, die wenigsten, die beiden, die vielen, das meiste, der eine, ein anderer, kein anderer, zum einen, zum anderen. Offenbar «dürfen» wir diese Pronomina und Zahladjektive deshalb noch klein schreiben, weil sie sehr häufig auch ohne Artikel gebraucht und dann ebenfalls klein geschrieben werden und weil es noch viel mehr von ihnen gibt: ich, du, er, wir, ihr, sie, der, derjenige, dieser, jener, einer, keiner, derselbe, mancher, jemand, niemand, etwas, nichts, wer, welcher, dergleichen, alles, allerlei, alle, sämtliche, einige, einzelne, etliche, mehrere, mindeste, einzig – alle mit ihren sämtlichen Geschlechts- und Flexionsformen. Von diesen Wörtern werden die einen immer, die anderen sehr häufig substantiviert verwendet (und würden die Grossschreibung sogar ohne Artikel mehr verdienen als voraus und nachhinein), trotzdem schreiben wir sie nach wie vor, und mit gutem Grund, generell klein.

(6)

Alle substantivierten Kardinalzahlen bis 999'999, z. B. Die grösseren drei sollen vorangehen! Es genügen sieben in der Kommission. Wieviel gibt zwölf und acht?

Wir stellen somit fest, dass gerade die häufigsten Fälle zu Ausnahmen von der Hauptregel geworden sind. Das war auch von einem lerndidaktischen Standpunkt aus gesehen äusserst ungeschickt (um es höflich auszudrücken).

Eine Ausnahme haben die Reformer sogar verschwiegen: ein andermal. Dieser gängige Ausdruck muss ihnen seit 1996 äusserst peinlich sein! Sie konnten ihn nämlich nicht aufrennen (wie das erstemal, ein nächstesmal, zum letztenmal usw.), weil dies eine heute grammatisch unübliche Fügung ergäbe: ein ander Mal. (Deshalb mussten sie die Zusammenschreibung auch bei diesmal, manchmal, vielmal beibehalten, s. §39, WV.) Grossschreibung ein Andermal wagten sie aber auch nicht zu fordern, sonst hätten sie auch das Erstemal, ein Nächstesmal, zum Letztenmal einführen müssen. Also am besten nichts sagen! Der Ausdruck ein andermal kommt im Regelwerk denn auch nirgends vor. Das Dilemma zwischen ihrer Auftrennungs- und Grossschreibregel bei den Zusammensetzungen auf -mal «lösten» die Reformer mit einer chaotischen und unlogischen Regelung, die sich niemand merken kann, gipfelnd in der Abschaffung von jedesmal.

Mittels des Kleinschreibparagraphen §58 haben die Reformer schliesslich, gleichsam durch die Hintertüre, einige weitere Grossschreibungen ins Regelwerk eingeschmuggelt:

(3)

So dürfe man von neuem, von weitem, bis auf weiteres, ohne weiteres, seit längerem, vor / binnenkurzem auch gross schreiben (obwohl kein Artikel mitspielt), nicht aber von fern, gegen bar, gegen unbekannt, über kurz oder lang, schwarz auf weiss usw. Die Logik dahinter erschliesst sich uns nicht, vielmehr macht die Begründung (mit Flexion auch gross, ohne Flexion nur klein) den Eindruck einer aus den Fingern gesogenen ad hoc-Regel. Diese ist überdies inkonsequent umgesetzt, denn auf deutsch träumen ist heute gross zu schreiben (§58 E2). Und warum soll rot in die Ampel schaltete auf rot ein Substantiv sein (§57(1), §58 E2), weiss in das kann ich dir schwarz auf weiss beweisen hingegen nicht (§58(3.1))? Auch dies ist reine Willkür. Die herkömmliche durchgehende Kleinschreibung war entschieden einfacher.

E4

In ihrem Bestreben, die stark verankerte herkömmliche Kleinschreibung zu diskreditieren, um ihre neuen Grossschreibungen besser aussehen zu lassen, haben die Reformer sogar eine «Erläuterung» missbraucht (E4). Da lesen wir: «Wenn die Schreibenden zum Ausdruck bringen wollen, dass das Zahladjektiv substantivisch gebraucht ist, können sie es nach §57(1) auch großschreiben: Sie strebte etwas ganz Anderes an. Die Einen sagen dies, die Anderen das. Die Meisten stimmten seiner Meinung zu.» Ein regelrechter Freibrief für die Grossschreibung! Auch diese ad hoc-Regel ist im übrigen schlecht durchdacht: Zwar gilt sie laut WV auch bei viel und wenig, aber warum finden wir sie nicht bei ein bisschen und die beiden? Und warum nicht auch bei den Pronomina, ein jeder, ein jeglicher, ein solcher?

Einige dieser Grossschreibungen sind besonders verfehlt: In einem Satz wie Scharfsinnig nimmt sie jeden einzelnen aufs Korn ist nicht gemeint «jeden Einzelnstehenden», sondern «jeden, einzeln betrachtet». Wenn schon, ist hier jeden eine Substantivierung, aber ganz sicher nicht einzelnen. Wir müssen dieses heute aber gross schreiben.

So ist auch die Grossschreibung der Tag + Tageszeit-Verbindungen heute abend, übermorgen vormittag, gestern morgen usw. zu beurteilen, wo seit der Reform heute Abend usw. zu schreiben ist, österreichisch (laut Duden) sogar morgen Früh. Sie stehen im Regelwerk seit 1996 in §55 ganz am Schluss (6), passen aber in Wirklichkeit viel besser in den unmittelbar anschliessenden §56 (mir ist angst und bange usw.), dessen Einleitung von 1996 bis 2004 sehr treffend lautete: «Klein schreibt man Wörter, die ihre substantivischen Merkmale eingebüßt und die Funktion anderer Wortarten übernommen haben (= Desubstantivierungen)». Seit 2006 ist die Einleitung zu §56 umformuliert, so dass die falsche Beurteilung und Einordnung von heute abend usw. am Ende von §55 statt in §56 weniger auffällt: «Klein werden Wörter geschrieben, die formgleich als Substantive vorkommen, aber selbst keine substantivischen Merkmale aufweisen». Der verräterische Begriff «Desubstantivierung» ist verschwunden. (Er kommt nun nur noch im Titel vor; das Inhaltsverzeichnis wurde nämlich möglichst nicht verändert, um den Anschein zu erwecken, dass die Reform nur ganz geringfügig modifiziert wurde.) An der Sache hat das selbstverständlich nichts geändert: Die Fälle wie heute abend zeigen keinerlei «substantivische Merkmale», die die Grossschreibung rechtfertigen könnten, vielmehr ist abend in heute abend ein Zeitadverb. Das sieht man erstens daran, dass mit «wann?» nach ihm gefragt wird: Du sagst, sie kommen heute noch. Aber wann genau? – Heute abend. Zweitens kann im Deutschen – anders als z. B. im Altgriechischen – ein Substantiv (Abend) nicht durch ein Adverb (heute) näher bestimmt oder beschrieben werden (das müsste lauten: der heutige Abend), Adverbien erlauben das hingegen ohne weiteres: ziemlich oft, das tut mir sehr leid, er schreibt wohl absichtlich dermassen gestelzt usw., oder eben heute abend spät. Der Duden 1991 hatte [heute] abend usw. noch richtig als «aus Substantiven entstandene Adverbien» bezeichnet (R61). Ihre Grossschreibung ist eine unglaubliche Fehlleistung der Reformer!

Genau gleich verfehlt war die Reformgrossschreibung es tut mir Leid. Diese nahm der Rat für Rechtschreibung 2006 wieder vollständig zurück, weil wir auch da nicht ein Substantiv («was?») meinen, also es tut mir grosses Leid, sondern ein Adverb («wie?»), eben es tut mir ausserordentlich / wirklich / sehr leid. Bei heute Abend usw. aber erreichten die Reformer im Rat für Rechtschreibung, dass die Grossschreibung nicht wieder abgeschafft, ja nicht einmal die Kleinschreibung wieder gestattet wurde. Und seit 2006 ist nichts mehr geschehen. So sind diese sprachwidrigen Grossschreibungen bis heute amtlich vorgeschrieben, inzwischen unzähligemal geschrieben und gedruckt worden (auch von ahnungslosen, gedankenlosen oder mutlosen Freiwilligen) und müssen bis heute im Deutschunterricht an allen Schulen im deutschsprachigen Raum und weltweit hundertausenden jüngeren und älteren Deutschlernenden eingebleut werden.

* * * * *

Wir halten fest: Die Reformer haben nicht nur eine untaugliche Hauptregel für die Substantivierung erfunden und diese Regel einerseits ad absurdum geführt, andererseits durch die erdrückende Zahl von Ausnahmen selbst disqualifiziert, sondern sie haben gleichzeitig durch den übersteigerten Formalismus dieser Regel viel Bewährtes zerstört: In der herkömmlichen Schreibung wurde Logik und Lebensnähe höher gewertet als Formalismus. Dies lässt sich an den oben besprochenen adjektivischen Zahlwörtern besonders anschaulich zeigen: Zahlwörter kommen naturgemäss häufig in Aufzählungen und Vergleichen vor. Dabei geht es immer um eine Mehrzahl. Die Reformer akzeptieren nun zwar, wie gesagt, in §58(1), dass «Adjektive, Partizipien und Pronomen, die sich auf ein vorhergehendes oder nachstehendes Substantiv beziehen», nicht substantiviert sind (sogar wenn der Artikel steht) und somit in herkömmlicher Weise klein geschrieben werden. (Man nennt das in der Grammatik den atributiv-elliptischen Gebrauch des Adjektivs.) Wenn aber kein solches Substantiv vorhanden ist, liegt für sie automatisch Substantivierung vor, wie wir am Beispiel von Arthur und Armin gesehen haben, wo der Erste, der Zweite usw. gross geschrieben werden müssen. Seit der Reform bilden deshalb der Erste, der Zweite, der Dritte …, der Letzte, der Erstere, der Letztere, Ersterer, Letzterer zusammen mit als Erster, als Zweiter …, als Letzter, der Einzige, als Einziger, der Einzelne, als Einzelner eine kleine Gruppe von Ausnahmen in der sonst durchgängigen Kleinschreibung der Zahladjektive.

Der logische und lebensnahe Ansatz der herkömmlichen Schreibung hingegen geht davon aus, dass in solchen Aufzählungs- und Vergleichssituationen ein Substantiv im Plural unterschwellig immer vorhanden ist, dass also Arthur und Armin einen Plural bilden (zwei Männer, Brüder, Jugendfreunde oder was auch immer), der ohne weiteres als Bezugsplural dienen kann, so dass der erste, der zweite usw. Adjektive bleiben und klein geschrieben werden können. Auch in der folgenden Passage aus Stefan Zweigs «Sternstunden der Menschheit» handelt es sich bei die letzten und die übrigen um solche Adjektive. Zu ergänzen ist irgend ein passender Plural, z. B. Bewohner, Menschen, Abenteurer, Überlebende, aber von einem solchen Plural steht im Text nichts – es braucht ihn auch nicht:

Aber zu Encisos Entsetzen berichten sie: es gibt kein San Sebastian mehr, sie selbst sind die letzten der einstigen Kolonie, der Kommandant Ojeda hat sich mit einem Schiffe davongemacht, die übrigen, die nur zwei Brigantinen besaßen, mußten warten, bis sie auf siebzig Personen herabgestorben waren, um in diesen beiden kleinen Booten Platz zu finden.

So hat sich vor Jahrzehnten die Regel entwickelt, dass die adjektivischen Zahlwörter am besten gleich allesamt klein geschrieben werden. Sogar die übrigen, die restlichen (wie die anderen), alles mögliche, verschiedenes (wie einiges, etliches), ähnliches (mit u. ä.), ferner Ausdrücke wie im wesentlichen, im allgemeinen, nicht im entferntesten (wie nicht im mindesten), aufs äusserste werden in solch allgemeiner Funktion herkömmlich klein geschrieben. So kann die Grossschreibung wirklichen Substantivierungen vorbehalten bleiben, z. B. das Resultat war eine schwarze Null; sie wurde glückliche Drite; der Redner blieb im Allgemeinen und Banalen stecken.

Jedes 3. wort wird gross­geschrie­ben, von den län­geren jedes 2. Das soll «spar­sam» und ein «hilf­reiches Signal» sein? Diesen an­spruch er­füllt die eigennamen­gross­schrei­bung (jedes 10.).

Richtig verstanden ist Substantivierung eben nicht eine rein formal definierbare Angelegenheit, und die mechanische Anbindung der Grossschreibung an formale Kriterien führt leicht zu Übertreibung und Sinnwidrigkeit. Grossschreibung ist viel eher als eine Art Privileg aufzufassen, mit dem die herkömmliche Rechtschreibung bewusst sparsam umging, damit das beim Lesen hilfreiche Signal, das der Grossbuchstabe aussendet, nicht inflationär abgeschwächt wurde. Die Reformer haben in diesem fein austarierten System gewütet wie der Elefant im Porzellanladen.

* * * * *

Als regel­rechten skandal werten wir die tat­sache, dass derart un­taug­liche regeln amtliche geltung bean­spruchen können und seit ihrer inkraft­setzung 1901 gehütet werden. Dieses regel­werk ist fast aus­schliess­lich der be­wahrung ver­pflichtet.

Die SOK hält seit ihrer Gründung 2006 diese Reformgrossschreibungen und die dahinterstehende Definition der Substantivierung sowie viele weitere Regeln und Einzelheiten der Reform 1996/2006 für verfehlt. Als regelrechten Skandal wertet sie die Tatsache, dass derart untaugliche Regeln amtliche Geltung beanspruchen können und seit ihrer Inkraftsetzung 2006 vom Rat für deutsche Rechtschreibung, der sie ja selbst in ihrer heutigen Version formuliert und verabschiedet hat, gehütet werden. Dessen Regelwerk ist fast ausschliesslich der Reform und ihrer Bewahrung verpflichtet, hat deren Grundbestand an Regeln in den letzten achtzehn Jahren nicht angerührt und verschweigt geflissentlich alle herkömmlichen Schreibungen, die 2006 nicht wieder erlaubt worden sind. Das ist Ideologie, nicht Wissenschaft, und das Regelwerk gleicht einem religiösen Pamphlet.

Zur einheitlich­keit: stel­lung­nahme, ein­heit­lichkeit.

Es gibt heute wohl keinen deutschen Text, über dessen Rechtschreibung sich ein paar beliebig ausgewählte deutschsprachige Personen vollständig einig wären. Und das Chaos reicht viel tiefer, als einem bei oberflächlicher Betrachtung von gedruckten Texten bewusst wird. Von einer «Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum» kann seit der Reform keine Rede mehr sein, und dass der Rat sagt, er sei deren «Garant», ist absurd. Vielmehr pflegt er ihre Uneinheitlichkeit.

Um den deplorablen Zustand der heutigen deutschen Rechtschreibung und die unrühmliche Rolle, die insbesondere auch die Politik seit Anbeginn in dieser Sache gespielt hat, richtig einzuschätzen, ist es – wie in vielem – nötig, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Anschliessend werden wir einen praktikablen Weg aufzeigen, wie unsere Rechtschreibung innert kürzester Zeit aus dem bald 30jährigen Schlamassel wieder herausfinden kann.

3. Die Vorgeschichte und Planung der Reform

Die deutsche Rechtschreibung wurde praktisch das ganze 20. Jahrhundert hindurch vom «Rechtschreibduden» betreut, in der Nachfolge seines 1911 verstorbenen Gründers Konrad Duden. Akribisch hat die Redaktion die kleinen sich abspielenden Veränderungen beobachtet und protokolliert. Sie hielt es in ihren ungefähr alle sechs Jahre erscheinenden Neuauflagen fest, wenn eine neue Schreibweise dabei war, sich einzubürgern, wenn sie etwa gleich häufig wie die ältere war, wenn die ältere praktisch nicht mehr gebraucht wurde, und liess die ältere das nächstemal weg. So blieb das System der deutschen Rechtschreibung in einer wohlausgewogenen Balance und wurde grossmehrheitlich akzeptiert. Wenn wir es modern ausdrücken wollen, baute Duden auf das Superhirn und die Schwarm­intelli­genz der gesamten schreibenden und lesenden Bevölkerung.

Die hohe Expertise, Autorität und Quasi-Monopolstellung des Duden (die n. b. mit hohen Forschungskosten verbunden war) hat viel Neid erregt. Gewisse Regelungen waren zudem etwas allzu spitzfindig und riefen berechtigte Kritik hervor. Auch mangelte es vor allem seitens der Sprachdidaktik nicht an Ideen für «innovative» Eingriffe in die Rechtschreibung. Vor allem die sogenannte gemässigte Kleinschreibung – wie im Französischen, Italienischen usw. – wurde immer wieder kräftig propagiert. 1977 entstand genau dafür am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim eine «Kommission für Rechtschreibreform» (so hiess sie zuerst etwas undiplomatisch), die sich von der deutschen Kultusministerkonferenz den Auftrag einholte, einen Vorschlag zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung auszuarbeiten, und sich 1980 mit ähnlich gesinnten Gruppierungen aus der DDR, Österreich und der Schweiz zusammentat, woraus ein «Internationaler Arbeitskreis für Orthographie» hervorging.

1991 publizierte Duden den wichtigen und bis auf ein paar Einzelheiten (z. B. ernst zu nehmend) gut gelungenen «Einheitsduden» (20. Auflage), mit dem die beiden Stränge (DDR und BRD) wieder zusammengeführt wurden. Nun kam Hektik auf. Der Arbeitskreis begann, eine konkrete Reform vorzubereiten. Der Konkurrenzverlag Bertelsmann, der den «Wahrig» herausgab, zeigte sich sehr interessiert. Vordergründig versprachen die Reformer, das Schreiben zu vereinfachen und die Zahl der Rechtschreibregeln drastisch zu senken. Davon liessen sich auch viele Politiker begeistern. (Wer würde sich schon nicht gern eine dicke Scheibe vom unvergänglichen Ruhm abschneiden, den ein solches Projekt verspricht?)

Natürlich denken wir an den leser. Eine gute recht­schreibung ist für alle gut, nicht nur für den schreiber.

An die Leserinnen und Leser dachten weder die Reformer noch die Politiker. Mag sein, dass sie alle unter dem vielbeklagten «Rechtschreibtrauma» liten, das man sich, wie schon der Name sagt, eher beim Schreiben als beim Lesen zuzieht. Dabei müsste eine Rechtschreibung unbedingt primär auf die Bedürfnisse der Leser ausgerichtet sein. Sie sind erstens viel zahlreicher als die Schreiber, zweitens sind sie diesen gegenüber im Nachteil, weil sie Unbekanntes entziffern müssen, diese hingegen ja wissen, was sie schreiben wollen. Die Rechtschreibung muss also zugunsten der Leser möglichst klar, eindeutig und sprachrichtig sein, auch wenn dadurch den Schreibern etwas mehr Regeln zugemutet werden müssen.

Eine solche seit weit über hundert Jahren bewährte «Luxusregel» des Deutschen ist die Grossschreibung der Substantive und echten Substantivierungen. Nach einer Anhörung zahlreicher Verbände in Bonn am 4. Mai 1993 wurde – auf Druck der Politik und zur Entäuschung der Reformer – die gemässigte Kleinschreibung aus dem Reformvorhaben gestrichen. Dass sie die einzige Massnahme der geplanten Reform war, die einfach zu lernen ist und das Schreiben wirklich erleichtert hätte, und dass nach ihrem Wegfall von einer solchen Erleichterung nicht mehr viel übrig war, wurde allerdings verschwiegen. Eine Reform musste nun unbedingt durchgezogen werden, darin waren sich Reformer und Politiker einig. Im Juli 1995 wurde das erste Regelwerk veröffentlicht.

Der bereits genannte Theodor Ickler, ein kritischer Beobachter von der ersten Stunde an, berichtet (sprachforschung.org):

Im Jahre 1995 gab Kultusminister Zehetmair dem Spiegel [11. Sept.] auf die Frage «Wissen denn die Deutschen in etwa, was auf sie zukommt?» in einem unbewachten Augenblick die klassisch gewordene Antwort: «Nein, überhaupt nicht. Die breite Öffentlichkeit ist so gut wie gar nicht informiert. Deshalb werden viele erschrecken, wenn es nun zu einer Reform kommt, und zwar auch dann, wenn noch einiges geändert wird. Viele haben gar nicht mehr an eine Reform geglaubt, nachdem seit fast hundert Jahren alle Vorschläge gescheitert sind. Man wird uns, die Kultusminister, fragen: Was habt ihr denn da angestellt?» (FAZ Nr. 262, 10.11.2000, Feuilleton, S. 44.)

Am 30. November 1995 beschloss die deutsche Kultusministerkonferenz (KMK) die Reform. In ihrer Mitteilung verkündete sie:

Die Schreibregeln werden von 212 auf 112 reduziert. Von 52 Kommaregeln bleiben nur 9 übrig.

Nun musste auch der Duden mitziehen; aus ihm stammte ja die Zahl 212. Eine interne Weisung seiner Redaktion, die ein paar Monate später durch ein Missgeschick durchsickerte, sorgte für viel Gelächter:

Durch Neustrukturierung und vor allem durch Zusammenfassung einzelner Regeln und Regelbereiche wird die Zahl der Richtlinien von 212 auf 136 gesenkt. Begründung: Die inhaltlich falsche, aber politisch wirksame Formel „aus 212 mach 112“ muß auch im Duden ihren angemessenen Ausdruck finden.

Die so ans Licht gekommene Wahrheit über die Zahlenmogelei der Reformer konnte den Lauf der Dinge aber nicht mehr aufhalten.

Theodor Ickler berichtet weiter:

Am 1. Juli 1996 sollen die Kultusminister der deutschsprachigen Länder gezögert haben, ihre Unterschrift unter die Absichtserklärung zur Durchführung einer offenkundig unausgereiften Rechtschreibreform zu setzen. Erst als eine der anwesenden Personen einwarf, Bertelsmann habe schon gedruckt, unterschrieben sie. Tatsächlich lag am nächsten Morgen die Neue deutsche Rechtschreibung des Medienkonzerns in allen Buchläden.

Hinter den Kulissen ging es den ehrgeizigen Wissenschaftlern, dem auf den Erfolg des Konkurrenten eifersüchtigen Verlag und den Bildungspolitikern eben noch um etwas ganz anderes. Dies ist durch eine Aussage des Österreichers Dr. Karl Blüml einwandfrei verbürgt. Der Germanist und Gymnasiallehrer Blüml war Gründungsmitglied des genannten Arbeitskreises, der die Reform erarbeitete, und wurde anschliessend stellvertretender Vorsitzender der zu ihrer «wissenschaftlichen Begleitung» von der Politik eingesetzten «Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung» (1997–2004). Seine Aussage ist die erste von dreien, mit denen diese fehlgeleitete Reform überaus treffend charakterisiert werden kann. Er sagte:

Das Ziel der Reform waren gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlags in die staatliche Kompetenz zurückzuholen. (Der Standard, Wien, 31.1./ 1.2.1998, S. 13.)

Der duden hatte nie die kompetenz, die recht­schreibung zu ändern. stel­lung­nahme zum staat.

Das war ja vielleicht ein bisschen überspitzt, aber wir brauchen uns unter diesen Umständen etwas weniger zu wundern, warum die Reform inhaltlich so schlecht war. Zudem ist hinlänglich bekannt, dass im Arbeitskreis Leute mitmachten, die völlig unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was wie reformiert werden könnte oder sollte, und dass die einzelnen Vorschläge schliesslich jeweils per Mehrheitsentscheid angenommen oder abgelehnt wurden. (Hilfst du mir, so helf’ ich dir!) Ein Konzept gab es nie, und noch in der letzten Phase, als die Reform praktisch fertig ausgearbeitet war, mussten auf Druck der Politik einige Vorschläge zurückgezogen werden, darunter, wie gesagt, das Kernstück der Reform, die Kleinschreibung.

Übrig blieben drei Hauptbereiche: (1) Die Auftrennung einer grossen Zahl zusammengesetzter Wörter, (2) eine eiligst entworfene Regelung, die statt zur Kleinschreibung paradoxerweise zu vermehrter Grossschreibung führte, und (3) eine radikale Reduktion der Kommasetzung. Dazu kamen weitere Bereiche wie die Worttrennung am Zeilenende, drei Konsonantenzeichen in Schifffahrt usw., Bindestrich und Grossschreibung in das 20-Fache u. ä. sowie ein paar Einzelfälle, etwa die Abschaffung von Wörtern wie greulich oder jedesmal, Neuschreibungen wie Gräuel, Gämse, behände sowie – als auffälligstes Markenzeichen der Reform (ausser in der Schweiz) – die reduzierte ß-Schreibung. Um sämtliche Auswirkungen der Massnahmen reiflich zu bedenken und Vor- und Nachteile sorgfältig gegeneinander abzuwägen, blieb keine Zeit. Aber solche Sorgfalt war ja offenbar gar nicht angestrebt.

«Breit akzep­tiert», «leser­freund­lich»: Die deutsch­sprachigen beherr­schen (akzep­tieren) die recht­schrei­bung mehr­heitlich nicht und lesen im inter­nationa­len ver­gleich nicht beson­ders gut.

Das Resultat war verheerend: Vorher war die deutsche Rechtschreibung in einem über lange Zeit entstandenen, von der Allgemeinheit breit akzeptierten Gleichgewicht und äusserst leserfreundlich. Seit 1996 ist sie – nicht nur in vielen Einzelpunkten, sondern auch als ein systematisches Ganzes – in einer Schieflage, deren Einzelheiten auch die kompetenteste Lehrkraft nicht mehr beherrschen kann. Die Reform musste in der deutschen Sprachgemeinschaft zudem generelles und tiefes Befremden auslösen, weil sie zwei seit über 150 Jahren wirkenden Entwicklungsrichtungen diametral zuwiderlief: der Tendenz zu mehr Zusammenschreibung und der Tendenz zu weniger Gross­schreibung.

4. Von der Reform 1996 zur Reform der Reform 2006

Niemand kann sich damit herausreden, die Politik sei nicht genügend vor den Auswirkungen dieser Reform gewarnt worden! Der Aufschrei 1996 war enorm, die Kritik breit und fundiert. Aber die Politiker vertrauten ihrer «Zwischenstaatlichen Kommission» (der fast alle Mitglieder des Arbeitskreises angehörten) und setzten die Reform 1998 in Kraft. Die Kritik hörte damit nicht auf, sondern wurde immer heftiger. 2000 fing der Duden an, heimlich (und illegal) ein paar herkömmliche Schreibungen wieder zuzulassen, z. B. aufsehenerregend. Die Reformer hatten nicht bedacht, dass Schreibungen wie am Aufsehen erregendsten sprachlich schlicht falsch sind. Weitere Korrekturen folgten. 2002–2004 war ein Scheitern der Reform zeitweise nochmals zum Greifen nahe. Vor dem 1. Juli 2005, dem Ende der Übergangsfrist, wäre es immer noch möglich gewesen, die Übung abzubrechen. Aber die Politiker wollten dies auf keinen Fall zulassen, Gesichtswahrung war ihnen wichtiger als die deutsche Sprache. Es hiess, jetzt, wo die Schulen schon seit mehreren Jahren die neue Rechtschreibung unterrichteten und hundertausende Wörterbücher gedruckt worden seien, könne man nicht mehr zurück. Das waren billige Ausflüchte, denn es war längst klar, dass der Unterricht und die Hilfsmitel auf jeden Fall in Kürze wieder geändert werden mussten.

In jene Zeit fällt unser zweites Zitat. Die Aussage stammt von Johanna Wanka, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Brandenburg, die soeben ihr Jahr als Präsidentin der deutschen Kultusministerkonferenz abgeschlossen hatte. In einem Interview sagte sie:

Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden. (Der Spiegel, 2.1.2006, Nr. 1.)

Zu Zehetmair und Wanka: die dümmsten politiker­sprüche Deutsch­lands.

Dass die höchste Kultusministerin Deutschlands nun auch noch «Staatsräson» vorschob, wurde weitherum als Geschmacklosigkeit und Anmassung empfunden. Nach der kürzesten Definition ist Staatsräson der «Vorrang der Staatsinteressen vor allen anderen Interessen», und die politische Gesinnung dahinter ist: «L’état, c’est moi.» (Wanka wurde später unter Angela Merkel Bundesministerin für Bildung und Forschung.)

Die Politiker hatten aber erkannt, dass dringender Handlungsbedarf bestand. 2004, noch vor Ende der Übergangsfrist, wurde die Zwischenstaatliche Kommission – nach der Publikation ihres vierten Berichts und des entsprechend revidierten amtlichen Regelwerks 2004 – kurzerhand abgesetzt und durch einen 37köpfigen «Rat für deutsche Rechtschreibung» ersetzt, in dem neben Schul-, Didaktik- und Fachvertretern nun auch Akademien, Schriftstellerverbände, Buchverlage, Zeitungsverleger, Nachrichtenagenturen und Gewerkschaften vertreten waren (und noch sind). Sieben der zwölf Mitglieder der Zwischenstaatlichen Kommission waren weiterhin dabei, insbesondere alle Schweizer und Österreicher (je drei). Viele neue Mitglieder waren ebenfalls betont reformfreundlich, aber die Reformer waren im ganzen nicht mehr so dominant wie vorher. Der bereits genannte Hans Zehetmair, früherer bayerischer Staatsminister zuerst für Unterricht und Kultus, dann für Wissenschaft, Forschung und Kunst, wurde Vorsitzender (ohne Stimmrecht) und blieb dies bis 2016.

In den ersten Monaten arbeitete der Rat intensiv an einer Reform der Reform. Schon im Sommer 2005 aber wurde er von der KMK gestoppt, sehr zum Ärger des Vorsitzenden. Es bestand höchste Gefahr: Der Reformbedarf war vom Rat als so umfassend eingeschätzt worden, dass von der Reform nichts mehr übrigzubleiben drohte, ja sogar das Ziel, das Schreiben zu vereinfachen, war mehr und mehr kritisch hinterfragt worden. Im Januar 2006 wurde eine Anhörung der Verbände zur provisorischen Fassung des neuen Regelwerks durchgeführt. Es gab viele positive Voten, allerdings kamen diese zum grössten Teil von den Verbänden, die im Rat vertreten waren (Theodor Ickler hat dies in sprachforschung.org genau festgehalten). Im Februar 2006 wurde die Reform der Reform, obwohl nur etwa die Hälfte der Bereiche überhaupt angepackt worden war, als neues Regelwerk 2006 (mit WV) publiziert. Erneut kamen zahllose Warnungen, auch wegen der grossen verbleibenden Lücken. Aber die Politiker setzten das halbfertig überarbeitete Regelwerk in Kraft (in Deutschland schon am 2. März), verkündeten pompös den «Rechtschreibfrieden» und mischten sich künfig nicht mehr ein – nach der Devise: Schönreden, dann totschweigen!

Kurz zusammengefasst brachte das Regelwerk 2006 folgende Neuerungen:

  1. Die Auftrennung von Komposita (das heisst de facto die Abschaffung zahlloser Wörter) wurde insofern rückgängig gemacht, als fast alle herkömmlichen Zusammenschreibungen als sogenannte «Varianten» der Reformschreibungen wieder gestattet wurden. Eine solche Variantenflut ist aber so ziemlich das Letzte, was man in einer Rechtschreibung brauchen kann. Für eine solche gilt: Je einheitlicher, desto besser. Heute konstatieren wir zwar, dass sich die herkömmlichen Zusammenschreibungen gegenüber den Getrenntschreibungen der Reform längst wieder durchgesetzt haben und vom Duden empfohlen werden. Die Reformschreibungen sind aber noch nicht wieder abgeschafft, die angeblich schreiberfreundliche Variantenflut dauert unvermindert an.

  2. Die Kommasetzung wurde fast ganz wieder in ihren herkömmlichen Zustand zurückversetzt. Nach dem Hin und Her ist – wen wundert’s? – in breiten Teilen der Bevölkerung der Eindruck völliger Beliebigkeit dieses für die Leserfreundlichkeit von Texten so wichtigen Bereichs der Rechtschreibung zurückgeblieben.

  3. Am schlimmsten ist die Lage im zweiten Hauptbereich der Reform, der Gross- und Kleinschreibung. Hier hatten die Kultusminister im Sommer 2005 verfügt, dieser Bereich werde nicht mehr angetastet. (Die österreichischen und schweizerischen Behörden mischten sich nicht ein, wurden wohl auch gar nicht gefragt.) Zur Besänftigung der Gemüter wurden die Grossschreibung es tut mir Leid und zwei, drei andere – nach zehn Jahren Obligatorium – wieder verboten. Die seinerzeit als Ersatz für die gemässigte Kleinschreibung in aller Eile entworfene vermehrte Grossschreibung ist dadurch paradoxerweise zu einem besonders dauerhaften Reformbereich geworden und stiftet bis heute unsäglich viel Verwirrung, beim Schreiben wie beim Lesen.

Dies ist der eigentliche Skandal von 2006, nämlich dass die Politiker zum zweitenmal eine unausgereifte Arbeit vorschnell als amtliches Regelwerk in Kraft gesetzt haben. Und damit kommen wir zum dritten der drei wichtigen Zitate, die das Trauerspiel dieser Reform so treffend illustrieren. Besagter Hans Zehetmair räumte in einem (sehr lesenswerten) Interview 2013 freimütig ein:

Im Rückblick muss man sagen, dass die Rechtschreibreform kein Ruhmesblatt war und ist, weder für die Politik noch für die Wissenschaft. Der Fehler der Politik war, dass wir uns mit dieser Reform nicht befasst haben. […] Ich habe das Thema genauso wenig geliebt wie die anderen 16 Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb haben wir die Wissenschaftler einfach machen lassen. (Donaukurier, 17.5.2013.)

Zu Zehetmair: Zum glück nimmt ihn niemand ausser der SOK ernst. Sonst müsste man sagen: Bürger, deine politiker lieben die temen, für die sie zu­ständug sind, nicht. Und sie lassen die wissen­schaft normaler­weise nicht einfach machen.

Ein Wort zur Rolle der Schweiz: Die wenigen Voten Anfang 2006 waren äusserst kritisch. In das neue Regelwerk ist davon nichts mehr eingegangen. Wir Schweizer sind sonst sehr erpicht darauf, Vorlagen der Politiker in ausführlichen Vernehmlassungsverfahren zu kritisieren und zu verbessern. In Sachen Rechtschreibreform aber haben 1996 die schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und der Bundesrat vor der Unterzeichnung der Absichtserklärung überhaupt kein solches Verfahren durchgeführt, und dasjenige der EDK im Jahr 2006 kam so spät und war so kurz (März/April) und so stark eingeschränkt («in schulischen Kreisen», s. NZZ Nr. 58, 10.3.2006, S. 14), dass sie ihren Namen nicht verdient. Fazit: Unsere Behörden waren noch desinteressierter als ihre deutschen und österreichischen Kolleginnen und Kollegen und hatten insbesondere keine Ahnung davon, was die drei Vertreter trieben, die sie in die Zwischenstaatliche Kommission und nach deren Absetzung unbesehen in den neuen Rat für Rechtschreibung entsandt hatten. Schliesslich blieb ihnen nichts anderes übrig, als am 22. Juni 2006 den Deutschen, die mit ihrer Beschlussfassung den anderen wie gewöhnlich weit vorausgeeilt waren, zu folgen (NZZ Nr. 53, 4./5.3.2006, S. 50).

* * * * *

Hans Zehetmair, der als Bayer auch in Österreich und in der Schweiz auf viel Sympathie stiess, hat sich zusätzliche Glaubwürdigkeit erworben, indem er die Fehler der Politik offen zugegeben hat. Wir nehmen ihm sogar fast ab, dass er 2004 den Vorsitz des Rats für deutsche Rechtschreibung als «Bußgang» auf sich genommen hat, wie er im Interview von 2013 selber sagt. Bleiben wir noch einen Moment bei ihm, immerhin war er einer der wichtigsten politischen Akteure in dieser Angelegenheit!

Gegen Ende seines Ratsvorsitzes antwortete er in einem weiteren lesenswerten Interview auf die Frage des Journalisten, ob es schlau gewesen sei von der Politik, sich der Rechtschreibung anzunehmen, mit entwaffnender Offenheit:

Nein, das sollte nie wieder vorkommen, die Lektion haben alle gelernt. (Die Zeit, Nr. 31, 1.8.2015.)

Ganz ähnlich hatte er es schon im Interview von 2013 ausgedrückt:

Dass die Politik das Thema an sich gezogen hat, das sollte sich aber nie mehr wiederholen. Das ist nicht Aufgabe der Politik, und dafür ist sie auch nicht kompetent.

Ein Schuft, wer bei so viel Lernfähigkeit und Demut darauf hinzuweisen wagt, dass die Politiker in Tat und Wahrheit die Rechtschreibung bis heute fest im Griff halten! Sie haben sich 2004 bloss aus der Schusslinie genommen. Seither hütet der Rat für Rechtschreibung für sie das amtliche Regelwerk. Und sie beschützen und ernähren den Rat für Rechtschreibung, ihren loyalen Laufburschen und Prügelknaben.

Ob Zehetmair selbst die fundamentalen Probleme je erkannt hat, die die Reform bis heute hinterlassen hat? Schwer zu sagen. Der folgende Satz aus dem Interview von 2015 macht stutzig:

Im Großen und Ganzen konnten wir das Reformierte reformieren und die Fehler der Politik wieder ausbügeln.

Auf den ersten Blick sieht dies nach plumper Selbstbeweihräucherung aus – bis wir die versteckte Botschaft entdecken, die deutlich macht, wie viel Handlungsbedarf in Wirklichkeit noch besteht (siehe oben, Kap. 2). Wollte uns Zehetmair mit diesem Satz etwas sagen? Und wenn ja, was?

Die Handlungsunfähigkeit des Rats für Rechtschreibung (den er 2004 nicht mehr direkt mitverschuldet hatte) kann Zehetmair jedenfalls nicht verborgen geblieben sein, er hat sie vielmehr am eigenen Leib erfahren. Im Sommer 2005, als er und der ganze Rat gerade von der KMK gestoppt und damit arg brüskiert worden waren, vermeldete er trotzig:

Der Rat wird es sich nicht nehmen lassen, sich auch mit anderen Bereichen der Rechtschreibreform zu beschäftigen, um auch hier evidente Ungereimtheiten zu beseitigen. (SZ 24.7.2005.)

Und noch im Interview 2013 versprach er, Stengel und Gemse wieder zu erlauben: «Daran arbeiten wir». Erreicht hat er nichts. Ende 2016 trat er als Vorsitzender des Rats zurück, 2022 ist er gestorben. Stengel und Gemse sind bis heute amtlich verboten, und auch in den anderen Reformbereichen, insbesondere der Gross- und Kleinschreibung, ist nichts mehr geschehen.

Aus der Sicht der Kultusminister aber ist das 2004 (insgeheim) gesteckte Hauptziel erreicht worden. Dieses besteht nicht etwa darin, die schwer beschädigte deutsche Rechtschreibung zu reparieren. Das Ziel ist ein ganz anderes, und es war wohl auch Hans Zehetmair ein wichtiges Anliegen. Hören wir ihn ein letztesmal in seinem Interview 2015:

Ich empfinde jedenfalls große Genugtuung darüber, dass um das Thema Rechtschreibung inzwischen Ruhe eingekehrt ist.

5. Wo stehen wir heute?

Am 11. Mai 2006, zwei Monate nach dem Beschluss der KMK zum neuen Regelwerk, fasste die Mitgliederversammlung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung folgende Resolution:

Die inzwischen erfolgte Reform der Rechtschreibreform‘ ist zwar sehr zu begrüßen. Doch enthält das vorliegende Ergebnis noch so viele gravierende Mängel, daß auf seiner Basis die Wiederherstellung einer überwiegend einheitlichen Schreibung nicht gelingen kann. Es empfiehlt sich daher keineswegs, es bei dieser noch durchaus unbefriedigenden Lösung zu belassen und sie als längerfristig gültig anzusehen. Dadurch würden die notwendigen weiteren Reformen sehr erschwert.

Seither sind achtzehn Jahre vergangen. Passiert ist, wie gesagt, nichts mehr. Auch nicht nach der «Frankfurter Erklärung nach 20 Jahren Rechtschreibreform» vom 19. Oktober 2016. Diesen Sommer (2024) ist auf der Homepage des Rats für deutsche Rechtschreibung die neueste Fassung des amtlichen Regelwerks aufgeschaltet worden. Es gibt darin einige neue Themenbereiche, zum Beispiel den Genderstern (S. 153f.), an den grossen Inhalten von 2006 hat sich jedoch noch immer nichts geändert. Dass Spagetti – ein Affront unseren Tessiner Landsleuten und ihren südlichen Nachbarn gegenüber– verschwunden ist, ist erfreulich, fällt aber neben den verbliebenen Problemen überhaupt nicht ins Gewicht. Insbesondere agiert der Rat nach wie vor einseitig reformfreundlich. Dies ist im Regelwerk an unzähligen Stellen zu sehen: Zum Beispiel werden die Getrenntschreibungen der Reform nach wie vor zuerst, also vor den herkömmlichen Zusammenschreibungen genannt (siehe §36(2.1), §34 E7 und im WV), obwohl der Duden bei den meisten längst wieder die Zusammenschreibung empfiehlt. Weiter wird einer der grössten Sündenfälle der Reform, die Abschaffung von wohlbekannt (siehe Duden 1996) und seine unvollständige Rehabilitierung 2006, nach wie vor stillschweigend übergangen und das bedeutungsverstärkende Vorderglied wohl- sogar in der einschlägigen Liste §36(1.5) unterdrückt.

Am gravierendsten aber ist die Behandlung der vielen herkömmlichen Schreibungen, die 1996 abgeschafft und 2006 nicht wieder gestattet worden sind und deshalb Schulkindern, die ein älteres Buch lesen und sie von dorther in ihren nächsten Aufsatz übernehmen, von der Lehrkraft als Fehler angestrichen werden müssen (z. B. Gemse, jedesmal, numerieren, Zierat, im voraus, der drite, jeder einzelne, verschiedenes, im allgemeinen, nicht im geringsten u. v. a. m.). Zu diesen Schreibungen ist im Regelwerk nichts zu vernehmen. Wird ihre Häufigkeit bzw. Beliebtheit vom Rat für Rechtschreibung im Rahmen seiner als wichtige Errungenschaft präsentierten «empirischen Schreibbeobachtung» überhaupt erhoben? Und wenn ja, wird bei der Auswertung berücksichtigt, dass die Häufigkeitswerte wegen der unfairen Bevorzugung der «amtlich» geadelten Reformschreibungen unweigerlich verzerrt sind? Uns ist von solchen Studien nichts bekannt. Die grossen Wörterbücher nennen einige dieser herkömmlichen Schreibungen immerhin und signalisieren damit, dass es sie gab und noch gibt, dürfen sie aber unter den heutigen rechtlichen Bedingungen nicht freigeben oder gar empfehlen. Ausgerechnet der Rat für Rechtschreibung aber, der sich zur zuständigen wissenschaftlichen Instanz für Rechtschreibung hat krönen lassen, verschweigt sie geflissentlich. Er verfolgt in den «heissen» Themenbereichen der Reform seit achtzehn Jahren eine rigorose Stillhaltetaktik. Der Nachfolger Hans Zehetmairs als Vorsitzender, Dr. Josef Lange, ehemaliger Staatssekretär in Niedersachsen, schreibt auf der Startseite des Rats (letztmals geprüf am 14.10.2024):

Die wichtigste Aufgabe ist es, das Thema Rechtschreibreform in dem ruhigen Fahrwasser zu belassen, in das es Herr Zehetmair geführt hat.

Und geradezu grotesk mutet Langes Aussage an (wohl ein Selbstzitat),

Sprache verändere sich ständig, aber die geschriebene Sprache vor allem in Schule, Verwaltung und Rechtspflege müsse eindeutig sein.

Als ob der Rat je auch nur das mindeste in Richtung Eindeutigkeit der geschriebenen deutschen Sprache unternommen hätte! Eindeutig war diese bis 1996. Heute ist sie davon weiter entfernt denn je:

  1. Viele bewährte herkömmliche Schreibweisen und neue Reformschreibweisen stehen seit 2006 als sogenannte «Varianten» in permanenter Konkurrenz zueinander.

  2. Viele herkömmliche Schreibweisen sind nach wie vor verboten, z. B. jedesmal, das vorher ein halbes Jahrtausend lang ein beliebtes deutsches Wort gewesen war und auch nach 28 Jahren Reform noch sehr häufig verwendet wird.

  3. Grenzen zwischen den Wortarten werden verwischt, indem Grossschreibung vorgeschrieben wird, wo Kleinschreibung in jeder Hinsicht besser begründet ist und das ganze 20. Jahrhundert hindurch gegolten hatte, z. B. bei im nachhinein, heute abend, kein einziger, als erster.

  4. Viele verfehlte Reformregelungen sind nach wie vor in Kraft, z. B. die Vorschrift, dass dies ist ihm wohlbekannt im Sinne von «bestens bekannt» auch dies ist ihm wohl bekannt geschrieben werden kann. (Dass dieser konkrete Fall, wie erwähnt, im Regelwerk verschwiegen wird, bedeutet nicht, dass er nicht gilt, siehe §36(2.1.)und Duden!) Diese Regelung ist exemplarisch für dutzende Fälle mutwillig zerstörter Klarheit und Eindeutigkeit, die nicht nur das Schreiben nicht erleichtern, sondern, noch schlimmer, das Lesen erheblich erschweren und generell Verwirrung stiften.

Oft wird beschwichtigend eingewendet, die Reform betreffe ja immer nur ganz wenige Wörter eines Textes. Wir haben vor kurzem eine Ausgabe der NZZ geprüft (Nr. 178, 3.8.2024) und über vierzig «auffällige» Schreibungen gefunden, mehr als eine pro Textseite (sogar ohne Berücksichtigung der Kommasetzung):

  1. Sehr auffällig sind Reformgrossschreibungen, wo die Kleinschreibung heute verboten ist: im Nachhinein (S. 36 usw.), im Übrigen (S. 39 usw.), im Voraus (S. 53), im Allgemeinen (S. 56), im Wesentlichen (S. 10), das Erste (S. 33), als Erstes (S. 12 usw.), fürs Erste (S. 33), ins Letzte (S. 50), das Letzte (S. 1), Letztere (S. 35), einer der Ersten (S. 15), ich war der Einzige, der … (S. 33).

  2. Andere Reformschreibungen sind: platzierte (S. 23), jedes Mal (S. 15), das letzte Mal (S. 33 usw.), zum ersten Mal (S. 35 usw.), ein für alle Mal (S. 54).

  3. Mit der herkömmlichen Schreibung Greuel (S. 35) hingegen stellt sich die NZZ bis heute gegen die Reform.

  4. In vielen weiteren Fällen schreibt sie herkömmlich, weil das Regelwerk dies ebenfalls erlaubt. Dies finden wir gut, andere Medien aber bevorzugen die Reformschreibung, so dass diese Fälle ebenfalls auffallen und den Lesefluss vieler Menschen stören: seit langem (S. 25), vor kurzem (S. 15 usw.), ohne weiteres (S. 2), bekanntgegeben (S. 9 usw.), kennengelernt (S. 32), sogenannte (S. 7 usw.), selbstgebautes (S. 46), selbstgebackenes (S. 51), hierzulande (S. 40 usw.), zustande (S. 32 usw.), zugrunde (S. 3), Handvoll (S. 48), selbständig (S. 32).

Wenn schon in einer einzigen Ausgabe einer auf gepflegte Sprache achtenden Zeitung so viele Schreibungen vorkommen, die jüngere und ältere Leserinnen und Leser unweigerlich an die Reform erinnern (und jedesmal ein wenig vom Inhalt ablenken), müssen wir uns nicht wundern, dass in anderen Texten die Lage noch viel dramatischer ist. Die Dichte an «auffälligen» Schreibungen, die ihren Grund direkt oder indirekt in der Rechtschreibreform haben, ist teilweise atemberaubend. Am 25.2.2015 «postete» ein Christian:

Bedänklich stimmt mich eher, der europaische “Außenruck” (Weg von der Poltischen Mitte gen. Links und Rechts). Scheinbar ist es mal wieder soweit, die Demokratie wird nicht mehr ordentlich wahr genommen und mit Füßen getreten.

Inzwischen haben viele Buch- und Zeitungsverlage resigniert. Im Herbst 2006, in ihrem 227. Lebensjahr, schrieb die NZZ in Reaktion auf das neue Regelwerk noch selbstbewusst und voller Sarkasmus:

Der Artikel «des» in der adverbialen Konstruktion «des Öfteren» reicht aus, um gross zu schreiben – eine grammatische Sinnwidrigkeit (Nr. 235, 10.10.2006, S. 15).

Heute schreibt auch sie des Öfteren (z. B. Nr. 159, 11.7.2024, S. 29; Nr. 170, 24. 7.2024, S. 6) – und ebenso heute Vormittag, morgen Abend usw. (z. B. Nr. 154, 5.7.2024, S. 29; Nr. 155, 6.7.2024, S. 33, ein Zitat von Paul Klee, der bestimmt nicht so geschrieben hat).

Andererseits gibt es nach wie vor Zeitungen, die wenig Hemmungen haben, auch herkömmlich zu schreiben. Im Münchner Merkur (Merkur.de) beispielsweise kann man neben Gämsen immer wieder auch Gemsen finden (8.3.2024, 22.8.2023, 27.5.2022), ebenso Quentchen (19.10. und 1.7.2023, 22.12 und 7.5.2022), Greuel (28.6. und 2.2.2023, 13.12., 17.5. und 8.5.2022), behende (27.12.2022, 2.10.2019), überschwenglich (15.10.2021, 17.6.2018), schneuzen (11. 12. und 25.7.2020, 24.2.2019), einbleuen (9.8.2020, 2.9.2019). Besonders häufig ist erwartungsgemäss jedesmal (12.9., 2.9., 26.8., 17.6., 9.6., 18.3.2024 usw.), wir finden aber auch ein für allemal (28.8.2024), zum/beim erstenmal (5.4. und 21.3.2024, 11.7.2022, 7.10.2021), zum zweitenmal (22.6.2023, 23.9.2022), zum drittenmal (26.6.2023), sowie Bin ich die einzige, die das glaubt? (12.9. 2024), Der Podcast ist nicht das einzige, was auf Eis gelegt worden ist (dito). – Eine Lehrerin müsste (auch gegen ihre Überzeugung) jede einzelne dieser rebellischen Schreibungen mit einem Fehler bestrafen. Unsere NZZ macht daneben einen fast etwas braven Eindruck. Immerhin sind ihr Gämsen noch ein Greuel.

Was die Schulbücher betrifft, sagte noch 2008 der Verleger Dr. Dr. h. c. Michael Klett, Vorstandsvorsitzender der Ernst Klett AG, anlässlich der Jahrestagung der Forschungsgruppe Deutsche Sprache in Stuttgart:

Es ist keine Frage, daß das Regelwerk des Rates für deutsche Rechtschreibung sehr verbesserungsbedürftig ist. Daher sind die Initiativen der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) jetzt gerade das Richtige. Der Weg, den sie einschlägt, wird insbesondere den Schulen helfen, mehr Sicherheit im aktuellen Durcheinander zu gewinnen.

Aber auch seinem Verlag blieb offenbar am Ende nichts anderes übrig, als die Sprachrichtigkeit den obrigkeitlichen und geschäftlichen Zwängen zu opfern.

Spätestens wenn die Kinder in den oberen Klassen mit deutscher Literatur in Kontakt kommen, wird vieles von dem, was sie vorher mühsam gelernt haben, in Frage gestellt, denn die meisten etwas älteren Bücher, die in der Schule gelesen werden, sind nur in herkömmlicher Rechtschreibung erhältlich: «Der Richter und sein Henker» von Friedrich Dürrenmatt (zuletzt Diogenes 2011), Stefan Zweigs «Sternstunden der Menschheit» (zuletzt Insel 2013) oder «Das Parfum» von Patrick Süskind (zuletzt Diogenes 2019).

Und noch verwirrender: Es erscheinen nach wie vor sehr viele neue Werke, auch Bestseller, deren Autorinnen und Autoren die Reform ignorieren: Daniel Kehlmann, «Ruhm» (Rowohlt 2009); Wulf Kirsten, «Beständig ist das leicht Verletzliche» (Ammann 2010) und «Erdanziehung» (Fischer 2019; in Kleinschreibung, aber sonst herkömmlich); Doron Rabinovici, «Andernorts» (Suhrkamp 2010); Siegfried Lenz, «Eine Art Bescherung» (Atlantis 2015); Marie-Térèse Kerschbaumer, «Chaos und Anfang. Ein Poem» (Wieser 2016; teilweise mit Kleinschreibung); Peter Handke, «Die Obstdiebin», «Mein Tag im anderen Land», «Zwiegespräch» (alle Suhrkamp, 2017, 2021, 2022); Iris Hanika, «Echos Kammern» (Droschl 2020); Christian Kracht, «Eurotrash» (Fischer 2021); Mathias Politycki, «Mein Abschied von Deutschland» (Hoffmann und Campe 2022), zuletzt «Schere im Kopf» (Ulrich Keicher 2024); Andreas Maier, «Die Heimat» (Suhrkamp 2023); Peter Bichsel, «Die schöne Schwester Langeweile» (Insel 2023) usw.

6. Appell der SOK: Verlassen wir diese Sackgasse!

Die SOK ist nicht der Meinung, dass eine solche Situation den Namen «Rechtschreibfrieden» verdient, und sieht auch keinen Grund, vor der angeblichen Unlösbarkeit des Problems zu kapitulieren. Sie hält fest: Obwohl die 1996 durch die Reform verursachte grosse Unsicherheit der deutschsprachigen Bevölkerung in Sachen Rechtschreibung unvermindert anhält und von niemandem je ernstlich bestritten worden ist, sind die Bildungspolitik und ihr beauftragtes Organ, der Rat für deutsche Rechtschreibung, achtzehn Jahre lang untätig geblieben, zeigen (öffentlich) keinerlei Einsicht, dass die gültige Rechtschreibung in den von der Reform veränderten Bereichen nach wie vor voller sachlicher Fehler steckt, und lassen keinen Willen erkennen, etwas gegen diesen gewaltigen Missstand zu tun.

Sie können auch gar nichts tun, denn wenn sie auch nur eine einzige heute verbotene herkömmliche Schreibung wieder erlaubten (z. B. jedesmal), eine einzige sprachwidrige Schreibung abschaffen (z. B. Zierrat) oder eine einzige verfehlte Regel des Regelwerks aufhöben (z. B. heute Abend usw.), würde sogleich ein Sturm weiterer Forderungen losbrechen. Sie wagen nicht einmal, die kuriose Inkonsequenz zu «korrigieren», dass nicht das geringste und nicht im geringsten seit der Reform verboten, nicht das mindeste und nicht im mindesten aber bis heute gestattet sind (offenbar ein simpler Lapsus des allerersten Regelwerks). Kurz, die Blockade ist mit dem von der Politik mandatierten Rat für Rechtschreibung, der erstens viel zu gross und zweitens gar nicht befugt ist, zielführend zu wirken, nicht lösbar.

Was versteht man unter scheitern? Für uns sind die 150-jährigen politischen bemühungen z. b. 1876, 1902–1995 usw. gescheitert.

Der tieferliegende Grund für das Scheitern der fast dreissigjährigen politischen Bemühungen um die deutsche Rechtschreibung ist der fundamentale Irrtum, die Rechtschreibung – irgendeiner Sprache – könne in staatlichem Auftrag geändert und in geänderter Form der Bevölkerung vorgeschrieben werden. Wahrscheinlich würde das nicht einmal in einer Diktatur funktionieren («1984»). Einschneidende Rechtschreibreformen sind grundsätzlich unerwünscht, und die deutsche von 1996 und 2006 war mit Sicherheit die allerschlechteste in der 5000jährigen Geschichte menschlichen Schreibens, nicht nur inhaltlich, sondern auch punkto Vorgehen: Es war grundverkehrt, sie als normale bildungspolitische Reform aufzugleisen. Zwar hat auch der Staat ein genuines Interesse an einer einheitlichen und sprachrichtigen Rechtschreibung, aber er ist in keiner Weise Hauptaktionär. Die deutsche Sprache, mündlich und schriftlich, gehört der deutschen Sprachgemeinschaft, uns allen, den Praktikern des Sprachgebrauchs. Keine Ministerin und kein Professor hält mehr als eine Aktie. Zwar nehmen nicht alle gleich aktiv am Leben des Unternehmens Sprache teil, dennoch können nur wir alle miteinander entscheiden, was (zur Zeit) mündlich und schriftlich gebräuchlich und somit richtig ist. Wir sind der Sprachsouverän! Die Rechte und die Verantwortung, die uns daraus erwachsen, dürfen uns durchaus ein wenig mit Stolz erfüllen.

Wer gerne schriftlich mit seinen Mitmenschen kommuniziert, wird deshalb im Normalfall ganz von selbst die Motivation spüren, möglichst «richtig» schreiben zu lernen, das heisst so wie die meisten anderen. Wir wollen ja von den anderen verstanden werden und umgekehrt auch selbst beim Lesen nicht dauernd durch sonderbare Schreibungen abgelenkt werden. Damit kann die Notwendigkeit, die Rechtschreibung zu erlernen, schon den jüngsten Schulkindern und ihren Eltern plausibel gemacht werden. Rechtschreibung muss kein Müssen sein, sondern soll ein Dürfen sein können, auch wenn es während der Schulzeit darum geht, sie nicht nur einigermassen, sondern möglichst gut zu erlernen. Letzteres sehen Schüler und Lehrer allerdings nur ein, wenn sich die Rechtschreibung selbst im bestmöglichen Zustand befindet. Welch eine Zumutung, dass heute eine Lehrerin dutzende sprachlich falsche, unlogische, unverständliche und womöglich von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnte Rechtschreibregelungen zuerst selber lernen und dann über Jahre hinweg hunderten Kindern eintrichtern muss und nicht weiss, wie sie sie ihnen erklären soll!

Natürlich liegt die Verantwortung bei den politikern, aber nicht seither, sondern seit dem 19. jahrhundert.

Die Politiker haben, wie gesagt, längst gemerkt, dass ihr Desinteresse an der Sache und ihr Ungeschick in der Vorgehensweise ein Desaster bewirkt haben, und sich vor zwanzig Jahren mittels eines offziellen Mandates an den Rat für Rechtschreibung, das zu vergeben sie eigentlich gar nicht legitimiert waren, diskret zurückgezogen. Aber die Verantwortung für die Misere liegt seither rechtlich bei ihnen, auch noch nach zwanzig Jahren. Sie haben es so gewollt. Inzwischen hat eine neue Politikergeneration die Chance, auf diese usurpierte «staatliche Kompetenz» in Sachen Rechtschreibung wieder zu verzichten und sich durch die Lösung der Blockade die Scheibe unvergänglichen Ruhms zu verdienen, auf die ihre uneinsichtige Vorgängergeneration (vergeblich) spekuliert hatte. Rechtschreibung, das gab sogar Hans Zehetmair zu, ist keine Staatsaufgabe. Und nochmals Theodor Ickler:

Der Staat kümmert sich ja auch nicht um die Grammatik, um die Aussprache oder um die Bedeutung der Wörter. (Die Welt, 8.3.2002.)

Die forderung nach einer «rekurs­sicheren» rechtschreibung haben wir bisher nur bei SOK-leuten gelesen, keinesfalls bei reformern.

Auch das aus Politik und Verwaltung immer wieder zu hörende Argument, die Rechtschreibung müsse «gerichtsfest» (in der Schweiz: «rekursfest», «rekurssicher») und deshalb staatlich geregelt sein, ist blanker Unsinn. Das behaupten die, die sich daraus Vorteile versprechen. Man stelle sich einen Augenblick vor, was wäre, wenn Rechtsdokumente wegen blosser Rechtschreibfehler oder veralteter, ungültig gewordener Schreibweisen angefochten werden könnten! Die allermeisten Verträge, Testamente, Protokolle enthalten Schreibfehler. Ebensowenig ist perfekte Rechtschreibkenntnis einer Lehrkraft von Eltern oder Schülern «einklagbar». Und auch was uns Bürgerinnen und Bürger aus Amtsstuben erreicht, ist trotz emsiger Korrekturprogramme fast nie fehlerfrei; es käme aber niemandem in den Sinn, die Dokumente deswegen zu ignorieren oder gar gerichtlich anzufechten. Dass die Staatsmacht für die Verwaltung, das Rechts- und das Bildungswesen Weisungsbefugnis beansprucht, hat mit Rechtschreibung nichts zu tun.

Die SOK richtet deshalb an die deutsche Sprachgemeinschaft und gleichzeitig an die Bildungsbehörden der Schweiz und des ganzen deutschen Sprachraums den bereits im obenstehenden Manifest formulierten Appell, dessen Empfehlungen wir hier noch etwas konkretisieren:

  1. «Amtlich verboten», «gestat­ten» – Wie jeder andere erwach­sene lassen wir uns in sachen recht­schreibung weder von der schule, von einem wörter­buch oder von der SOK irgend etwas ver­bieten oder ge­statten.

    Die SOK fordert von den bildungspolitischen Instanzen des deutschen Sprachraums, bei denen rechtlich seit 1996/2006 die Verantwortung für die deutsche Rechtschreibung liegt, dass sie unverzüglich sämtliche infolge der Reform amtlich verbotenen herkömmlichen Schreibungen pauschal wieder gestatten und zu diesem Zweck das amtliche Regelwerk samt seinem Wörterverzeichnis ausser Kraft setzen. Sie empfiehlt zudem dringend, den Rat für deutsche Rechtschreibung aufzulösen. Er ist, wie schon Hans Zehetmair erfahren musste, in Hinblick auf eine Korrektur der wichtigen gestörten Bereiche der Rechtschreibung handlungsunfähig und damit nutzlos. Zudem empfiehlt die SOK der Bildungspolitik, auf die Verantwortung für die Rechtschreibung zu verzichten und den fragwürdigen Status der Amtlichkeit der Rechtschreibung aufzuheben, und ermutigt sie, stattdessen in ihrem Einflussbereich die Einsicht zu fördern, dass eine möglichst einheitliche, sprachrichtige und weitestgehend unauffällige Rechtschreibung im unbedingten Interesse der gesamten Sprachgemeinschaft liegt, da nur so die vielen möglichen Feinheiten eines klaren, reichen, originellen, individuellen Sprachgebrauchs voll zur Geltung kommen können.

  2. Von «um­fassender aufklärung» träumen wir und andere reform­vereine seit 100 jahren. Aber dass man etwas «in ruhe lassen» soll, nennt man nicht aufklärung, sondern tabu.

    Mittels umfassender Aufklärung vor allem durch die Medien – öffentliche Gelder braucht es dafür nicht – wird anschliessend dafür gesorgt, dass jede Favorisierung der Reformschreibungen, wie sie bisher vom Rat für Rechtschreibung vorgemacht und durch Wörterbücher, digitale Korrekturhilfen, Lehrkräfte, die Verwaltung usw. nachvollzogen worden ist, gänzlich aufhört. Die Öffentlichkeit selbst soll darüber wachen, dass die freie Wahl zwischen den herkömmlichen und den Reformschreibungen gewährleistet ist, auch bei der ß-Verwendung. Jede Hektik und jedes Vorpreschen irgendwelcher öffentlicher oder privater Institutionen, Interessengruppen oder Individuen zur Propagierung von «guten Ideen» ist zu unterlassen. Je ruhiger und unaufgeregter die Gesamtbevölkerung mit ihrer Schwarmintelligenz nach der neuen Balance in der deutschen Rechtschreibung suchen kann, desto besser. Die von der Reform nicht betroffenen Bereiche der Rechtschreibung sollen vorderhand in Ruhe gelassen werden.

  3. Ob die SOK-empfehlung Icklers wörterbuch «besser bekannt macht»? Amazon bestseller-rang deutsche wörterbücher (bücher): duden 2, Ickler 2046.

    Als Hilfsmittel, um die herkömmliche Schreibung wieder besser bekannt zu machen, empfiehlt die SOK (neben ihrem «Wegweiser») vor allem die kurze und allgemeinverständliche Darstellung des hier schon mehrfach genannten, ausgewiesenen Kenners (und Kritikers) der Reform, Prof. Dr. Theodor Ickler, Universität Erlangen-Nürnberg, mit dem Titel «Normale deutsche Rechtschreibung. Sinnvoll schreiben, trennen, Zeichen setzen», 4., erweiterte Auflage, Leibniz-Verlag, St. Goar 2004. Das handliche Buch besteht aus einem Regelteil («Kurze Anleitung zum rechten Schreiben» und «Hauptregeln der deutschen Orthographie») sowie einem Wörterverzeichnis. Selbstverständlich leisten auch der Duden 1991 (20. Auflage) und der Wahrig 1991 gute Dienste, ebenso frühere Auflagen. Angaben zu weiteren Hilfsmitteln werden in naher Zukunft auch auf der SOK-Webseite zu finden sein.

  4. Eine «Stiftung für deutsche Rechtschreibung» im Sinne von Art. 80ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) und mit Sitz in der Schweiz wird errichtet, die zu zwei Dritteln privat, d.h. von den Schriftstellerverbänden, Buch- und Wörterbuchverlagen, Medien, Depeschenagenturen, Newsportalen, Herstellern digitaler Korrekturprogramme usw., und zu einem Drittel von der öffentlichen Hand, d.h. dem Bildungswesen, dem Rechtswesen und der Verwaltung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, finanziert ist. Der neunköpfige Stiftungsrat besteht aus je drei Deutschen, Österreichern und Schweizern, Männern und Frauen, sechs aus dem privaten, drei aus dem öffentlichen Sektor.

  5. «Liberalis­ierung der recht­schrei­bung» ist eine gute idee. Wie vor 150 jahren lehrt jede schule ihre eigene recht­schreibung. Aber lässt sie sich dann von einer stiftung davon ab­bringen?

    Vier Jahre (nicht früher) nach der Liberalisierung der Rechtschreibung gemäss Punkt 1 bestellt der Stiftungsrat erstmals die «Forschungsgruppe für deutsche Rechtschreibung», der neun ausgewiesene, vorwiegend jüngere Fachpersonen aus denselben Interessengruppen angehören, ebenfalls sechs aus dem privaten, drei aus dem öffentlichen Sektor, Männer und Frauen, hier aber vier Deutsche, drei Österreicher und zwei Schweizer. Eine Amtszeit dauert sieben Jahre, Wiederwahl ist möglich, die Gruppe konstituiert sich selbst, der Vorsitz rotiert. Die Mitglieder wirken ehrenamtlich oder nebenberuflich und dürfen sich in ihrer Arbeit helfen lassen. Finanziert wird die Arbeit in der Regel aus der Stiftung.

  6. Die Forschungsgruppe führt anhand eines grossen, ausgewogenen Corpus von dannzumal neuen Texten mit klarer Autorschaft vor allem für die von der Reform betroffenen Bereiche der Rechtschreibung eine erste Erhebung darüber durch, welche Varianten beliebter und welche weniger beliebt sind. Sie legt ihre Methodik und die Resultate laufend und vollständig offen und formuliert schliesslich aus den Resultaten klare und leicht lesbare «Empfehlungen», die sie spätestens ein Jahr nach ihrer Konstituierung in einer ersten Fassung publiziert. Jeder Regel sollen eine kurze, auch für den Schulunterricht taugliche Begründung und gegebenenfalls Listen mit gleichartigen Fällen beigegeben werden. Die Empfehlungen (ohne Listen) sollten die Länge von 7000 Wörtern nicht überschreiten, damit sie von jung und alt gelesen werden. Ein Wörterverzeichnis ist hingegen nicht nötig, dafür werden die Wörterbuchverlage sorgen.

  7. In unserer schnell­lebigen zeit sind wir dankbar, dass Gott (jemand anders kommt dafür nicht in frage) den fort­schritt der welt in einem 5-jahre-rytmus taktet.

    Anschliessend soll die Forschungsgruppe – in herkömmlicher Dudenmanier und unter stetiger Berücksichtigung des Gesamtsystems der deutschen Sprache – alle fünf Jahre die deutlich weniger beliebten Varianten zur Nichtverwendung und die beliebteren zur Verwendung empfehlen mit dem Ziel, die ersteren bald einmal gar nicht mehr aufführen zu müssen.

Zu «wett­bewerb»: stellung­nahme.

Die SOK ist überzeugt, dass die gegenwärtige, einseitig blockierte Situation nur durch den fairen Wettbewerb zwischen den herkömmlichen und den von der Reform eingeführten Schreibungen und mit der früher vom Duden angewandten Methode, die Schreibpraxis der Gesamtbevölkerung unvoreingenommen zu beobachten und behutsam zu steuern, überwunden werden kann. Nur so kann sich wieder eine allseits akzeptierte Balance der deutschen Rechtschreibung einstellen. Und wenn sich dabei am Ende fast durchgehend wieder die herkömmlichen Schreibungen durchsetzen, muss sich niemand wundern oder grämen. Denn diese haben sich ja allesamt im Gesamtsystem der deutschen Rechtschreibung schon viel länger und besser bewährt als die erst maximal 28 Jahre jungen Reformschreibungen. Die SOK legt jedoch Wert auf die Feststellung, dass das Ziel nicht einfach die simple Rückkehr zur Rechtschreibung vor 1996 ist. Die «neue altbewährte Rechtschreibung» wird ein wenig anders herauskommen als die herkömmliche. Wie genau, kann heute aber noch niemand wissen. Wir empfehlen jedenfalls der gesamten Bevölkerung, in der Übergangszeit tolerant zu sein, über die Sprache nachzudenken, viel zu fragen, zu vergleichen, zu diskutieren und zu erklären. Vieles in der Sprache passt nicht in ein Schwarz-weiss-Denken. Auch in Zukunft wird nicht jede Gämsen-Schreiberin eine Banausin und jeder Gemsen-Schreiber ein Dichtergenie sein!

Die kriterien für eine gute recht­schreibung haben sich in den letzten 1000 jahren nicht ge­ändert, digi­tales zeit­alter hin oder her.

Wir leben heute im Zeitalter der digitalen Korrekturprogramme. Diese lassen die gutgemeinte, aber viel zu einseitige Fokussierung der Reform auf die Vereinfachung des Schreibens noch schlechter aussehen. (Das konnten freilich in den 1990er Jahren auch die Reformkritiker noch nicht ahnen.) Wichtig ist heute vor allem die Einsicht, dass diese Programme ihren Nutzen nur entfalten können, wenn die Rechtschreibung möglichst klar und einheitlich geregelt ist. Die Entscheidung zwischen mehreren erlaubten Varianten, etwa von Neuem und von neuem oder bei der Worttrennung inter-essant oder inte-ressant, Sub-strat, Subs-trat oder Subst-rat, nehmen sie uns nicht ab, auch nicht die wiederkehrenden Zweifel, ob wir es das letztemal so oder anders geschrieben haben. Auch aus diesem Grund müssen wir uns nun alle miteinander so rasch wie möglich zuerst auf die besseren Varianten verständigen und anschliessend auf die schlechteren verzichten. Die Anpassung der digitalen Hilfsprogramme ist dann ganz einfach. Wenn wir uns jetzt aufraffen, wird in wenigen Jahren wieder eine für Schule, Verwaltung, Rechtspflege, Medien, Literatur und den Schriftalltag der Bevölkerung gleichermassen gültige einheitliche und sprachrichtige deutsche Rechtschreibung entstehen, die wir lesend und – dank der digitalen Hilfe – mehr und mehr auch schreibend permanent vor Augen haben und die sich sogar einzuprägen wieder lohnt.

Im Namen der Arbeitsgruppe der SOK:

Prof. Dr. Rudolf Wachter
Guferstrasse 6
CH–7278 Davos Monstein

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