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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel1957 → Die Aussichten
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Sprachforum, , 2. jg., nr. 3/4, s. 286 bis 294

Die Aussichten einer Rechtschreibreform*

Von Rechtschreibreformen sprechen heißt über Meinungskämpfe berichten, die mit erstaunlicher Regelmäßigkeit aufbrechen und zumeist unerwartet heftig verlaufen. Und zu Rechtschreibreformen Stellung nehmen heißt sich Kampflinie zweier Parteien begeben, denen beiden ihr Standort so unanfechtbar erscheint, daß sie nichts davon aufzugeben bereit sind. Trotzdem muß man diese Kampfzone abzuschreiten suchen, wenn man drei Mindestziele erreichen möchte:

1. daß aus den endlosen Streitigkeiten schließlich doch etwas Förderliches entspringt;

2. daß die schlimmsten Unzuträglichkeiten der geltenden Rechtschreibung behoben werden;

3. daß insgesamt die Fragen der Schrift im öffentlichen Bewußtsein an die Stelle rücken, an die sie gehören.

1. ZUM VERSTÄNDNIS DER RECHTSCHREIBKÄMPFE

Zunächst einiges über die Triebkräfte. Rechtschreib­kämpfe entzünden sich an Versuchen, die geltende Schreibweise zu reformieren. Man könnte sie also zu erklären suchen aus dem Gegensatz von Fortschritt und Beharrung. Diese Spannung spielt sicher mit. Aber sie allein würde uns nicht die Leidenschaft erklären, die das Kennzeichen dieser Kämpfe ist. Es sind vielmehr noch stärkere Kräfte beteiligt. Zwei Prinzipien treten sich entgegen, die letztlich zwei Grundhaltungen des Menschen seinen Schöpfungen gegenüber entsprechen: hier die Herrschaft des Geistes über seine Schöpfungen, hier die Wahrung des geschichtlich Geltenden. Wir versuchen die beiden Stellungen kurz zu kennzeichnen.

Den Anstoß geben die Reformer. Ihr Richtpunkt ist letztlich nichts anderes als das Ziel der Schrift. Ziel der Schrift ist das Umsetzen der sinnlichen Seite der Sprache vom Akustischen ins Optische: Hörzeichen werden ausgeweitet in Sehzeichen, und dadurch wird die Sprache in einer verstärkten Weise für den Menschen verfügbar. Es kommt also darauf an, daß diese Umsetzung so angemessen wie möglich verläuft: einfach, klar, reibungslos für den Schreibenden wie für den Lesenden. Dafür hat sich – nach den älteren Stufen von Wortschrift (etwa im Chinesischen) und Silbenschrift (z. B. im Semitischen) – die Buchstaben­schrift durchgesetzt. Die Buchstabenschrift mit ihrem Grundprinzip der Zuordnung von Laut und Buchstabe schafft mittels einer kleinen Zahl graphischer Zeichen einen verhältnismäßig einfachen und klaren Weg und gilt mit Recht als einer der weltbewegenden Fortschritte des Abendlandes.

Wir setzen nun alle als selbstverständlich voraus, daß auch für das Deutsche die Buchstaben­schrift gelte. Unzweifelhaft gebrauchen wir ein Alphabet von Buchstaben. Aber sobald wir näher zusehen, finden wir zahllose Abweichungen von dem Prinzip der Buchstaben­schrift:

Wir gebrauchen mehrere Buchstaben für denselben Laut (f und v in Fülle und voll); wir teilen demselben Buchstaben verschiedenen Lautwert zu (v in Veilchen und Vase); oft ist der Zusammenhang von Laut und Buchstabe ganz gestört (wir schreiben eu oder auch äu für einen Zwielaut, dessen tatsächliche Bestandteile o und e sind) usf.

Wer einmal anfängt, über unsere geltende Rechtschreibung nachzudenken, kommt aus dem Verwundern nicht mehr heraus und endet bei der Frage: entspricht denn das, was unsere Rechtschreibung von uns verlangt, überhaupt dem Prinzip der abendländischen Schrift? Haben wir im Neuhochdeutschen wirklich eine Buchstaben­schrift, oder haben wir diese umstürzende Erfindung der Griechen entweder nie ganz mitbekommen oder aber wieder verschleudert?

Hier setzen nun die Forderungen der Reformer ein: bestmögliche Durchführung der Buchstaben­schrift; klare Zuordnung von Lautform und Schriftbild. Angewandt auf die geltende Rechtschreibung: laßt uns die Fälle bereinigen, in denen für denselben Laut mehrere Buchstaben gelten oder derselbe Buchstabe mehreren Lauten zukommt; beseitigen wir Doppel­schreibungen desselben Lautes (ei und ai), doppelte oder gar dreifache Buchstaben für einheitliche Laute (ch; sch); verfahren wir gleichmäßig und folgerichtig (für die Lautfolge ks: nicht mehr wahllos Wachs, Hexe, Klecks; ebenso für die Kennzeichnung der Vokallänge); schalten wir vermeidbare Schwierigkeiten aus (warum gewisse Wörter durch Großschreibung auszeichnen?) usw. Eine Menge solcher Folgerungen drängt sich auf. Die Buchstaben­schrift soll doch eine möglichst angemessene und reibungslose Umsetzung von Akustischem in Optisches ermöglichen; warum dann die unzähligen Fälle, in denen man mit diesem Prinzip nicht durchkommt, sondern sich für jedes einzelne Wort die geltende Schreibung einprägen muß? Die Reformer können mit gutem Recht einleuchtende Besserungen gegenüber den bestehenden Abweichungen vom Prinzip der Buchstaben­schrift vorbringen.

Um so erstaunlicher ist das Echo, das sie wachrufen. Es meldet sich nämlich die zweite Grundhaltung, die das Recht des geschichtlich Gewordenen vertritt. Alles bisher über Laute und Buchstaben Festgestellte wäre sehr einfach durchzuführen, wenn es gälte, eine noch nicht verschriftete Sprache erstmals in Schrift überzuführen. Setzen wir dabei unsere heutigen Einsichten und Möglichkeiten voraus, so würde jeder es als selbstverständlich anerkennen, daß wir dem f-Laut ein einheitliches Zeichen gäben; und wollte jemand vorschlagen, die Länge der Vokale in einigen Fällen zu kennzeichnen, in anderen nicht, und wenn ja, im einen Fall den Vokal doppelt zu schreiben, im anderen ein h einzufügen, so würde man ihn als einen Narren davonjagen.

Aber wir haben keine freie Bahn, sondern eine geltende Rechtschreibung, die aus geschichtlichen Gründen solche Eigentümlichkeiten aufweist, teils aus Unzulänglichkeit, teils aus Beharrung, teils aus Zufall. Auf jeden Fall gilt es Neuerungen gegenüber Geltendem durchzusetzen, und da erheben sich nun erstaunliche Widerstandskräfte. Den Untergrund bilden die Millionen, die mit Ächzen und Stöhnen die geltende Rechtschreibung erlernt haben. Aus ihrem unmittelbaren Gesichtskreis sehen sie keine Anlaß, daran etwas zu ändern. Sie wollen in puncto Schrift ihre Ruhe haben, auf jeden Fall nichts Neues lernen. – Das wird verstärkt durch die primitive Neigung, etwas vom Gewohnten Abweichendes zunächst als lächerlich zu empfinden: vier mit f, Zahn ohne h, Ochse mit x, – das reizt schon die Lachmuskeln, und mancher hat sich an solchen Vorstellungen zum Satiriker und Karikaturisten heranwachsen gefühlt; hätte er es in der Jugend umgekehrt gelernt, so wäre er ebenso bereit, ein vier mit v zu verdammen. Dahinter steht eine noch stärkere Kraft: Der unbedingt richtige Gedanke, daß die gegenwärtige Geltung einer Rechtschreibung unabhängig vom persönlichen Urteil als verbindliche Tatsache anzuerkennen ist, gibt dem Bestehenden leicht den Schein einer unveränderlichen Geltung. Und nicht ohne Folgen haben Tausende von roten Strichen und schlechten Noten uns alle in der Jugend zu einem grenzenlosen Respekt vor der Rechtschreibregel erzogen. – So finden die Verteidiger des geschichtlich Bestehenden einen guten Boden: die vielen kleineren oder größeren Anstöße, die man an der geltenden Rechtschreibung nimmt, seien einzuschätzen als geschichtlich gewordene Eigentümlichkeiten; wir müßten uns mit ihnen abfinden wie mit vielem anderen, was in unserem Denken und Handeln Gewohnheit ist, auch wenn es sich vielleicht einfacher, rationeller ausdenken ließe; dies erst recht, wenn sich etwas heute Auffälliges geschichtlich begründen läßt (etwa das h in zehn durch althochdt. zehan, gotisch taihun – was aber nur bei ganz wenigen Fällen unseres heutigen Dehnungs-h möglich ist). Verstärkt wird das dann durch den Hinweis, daß gerade im Bereich der Schrift die geschichtliche Kontinuität sehr wichtig ist: das ganze geistige Erbe unserer Vergangenheit ist nun einmal in schriftlichen Denkmälern aufbewahrt, und der Zugang zu diesem Erbe darf nicht erschwert oder gar unterbrochen werden. Diese Rechtfertigung des Bestehenden zieht gerne auch noch zusätzliche, aus der Gewöhnung entnommene Scheingründe heran, um das nun einmal heute Geltende als den aus dem Wesensziel der Schrift abgeleiteten Forderungen der Reformer überlegen zu erweisen. Insgesamt rücken die Verteidiger des Bestehenden schließlich in die Stellung derer. die etwas natürlich Gewachsenes vor künstlichen Eingriffen bewahren müssen.

Dies ist also die Kräfteverteilung, die zu einem typischen Ablauf der Rechtschreibkämpfe führt: immer wiederkehrende Beschwerden, die sich auf offenbare Unzulänglichkeiten der geltenden Rechtschreibung gründen; Verdichtung zu Reformwünschen, die im Namen des Einfacheren, Sachgemäßeren, Vernünftigeren größere oder geringere Änderungen verlangen; Auftauchen von starken Widerständen mit echten und mit Scheingründen; Kämpfe von unerwarteter Erregtheit, die nicht selten in gegenseitige Beschimpfung ausarten; Unmöglichkeit einer einheitlichen Willensbildung mit dem Ergebnis, daß alles beim alten bleibt, – bis nach kurzer Zeit der nächste Kampf aufflackert, nun aber bereits unter erschwerten Bedingungen, die eine Lösung immer unwahrscheinlicher machen. Insgesamt ein unheilvoller Kreislauf, in dem keine Beruhigung und kein Ausweg sichtbar ist.

2. DAS BILD DER LAGE

Das sind also recht ungünstige Aussichten für unsere Frage, ob sich wenigstens die spürbarsten Unzuträglich­keiten unserer Rechtschreibung beheben lassen. Die Geschichte der Rechtschreibreformen lehrt, daß die Schriftsprachen von einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung an gegen Änderungen immer ablehnen der werden. Sei es, daß man die Schreibweise einer als klassisch empfundenen Epoche festhalten will, sei es, daß das Gewicht der Tradition übermächtig wird, – wir sehen an Sprachen wie dem Griechischen dem Französischen. dem Englischen, daß es bis zu erstaunlichen Spannungen zwischen Laut und Schrift kommen kann. Wenn diese Auseinander­entwicklung ein gewisses Maß überschreitet, wird man von einer Versteinerung der Rechtschreibung sprechen: da man weder plötzlich eine sehr tiefgreifende Veränderung vornehmen kann, ohne die Kontinuität der schriftlichen Überlieferung zu gefährden, noch durch häufigere kleinere Eingriffe eine dauernde Unruhe in das Schriftwesen bringen darf, so ist eine solche Kluft nicht mehr zu überbrücken. Damit ist ein äußerst gefährlicher Zustand geschaffen. In Sprachen, deren schriftlicher Ausbau auf engere Kreise von Schriftkundigen beschränkt ist, setzt ein sich immer mehr vertiefender Bruch zwischen geschriebener und gesprochener Sprache ein; in Kulturen, die den allgemeinen Zugang zum Schriftwesen anstreben, wird die schriftliche Bewältigung der Sprache für jeden Einzelmenschen zu einer Aufgabe, die kaum mehr zu erfüllen ist, die ein sehr stark auf das Erlernen der Rechtschreibung ausgerichtetes Volksschulwesen erzwingt, endlose Zeit und Mühe beansprucht und doch im dauerhaften Ergebnis recht unbefriedigend bleibt. Wer die Auswirkungen zunehmender Lautferne der Rechtschreibung im Englischen oder im Französischen verfolgt, die Aussichtslosigkeit von Reformversuchen, für die es zu spät ist; die den ganzen Unterricht bestimmenden Anforderungen der Rechtschreibung; die beängstigende Unsicherheit auch der Erwachsenen im Schriftgebrauch, kann sich ein Bild davon machen, welche Last eine Kultur mit einer versteinerten Rechtschreibung auf sich nimmt.

Es gilt also, den Gleichlauf von Laut und Schrift zu sichern, bevor der Abstand übergroß wird. Und so steckt ein Stück Urteil über die Zukunft unseres gesamten Geisteslebens in der Frage: ist auch die deutsche Rechtschreibung bereits versteinert oder läßt sich durch Reformen noch das Mindestmaß an Übereinstimmung von Laut und Schrift wiedergewinnen, das den genannten Gefahren vorbeugt? Eine Antwort erscheint nicht leicht. Die Ergebnislosigkeit der Bemühungen von mehr als 50 Jahren stimmt nachdenklich. Und wer die Reaktionen auf einzelne Reformvorschläge der letzten Jahre verfolgt hat, der möchte aus dem Ton vieler Äußerungen entnehmen, daß der Grad der Versteinerung bereits die Diskussion über mögliche Besserungen unmöglich macht (– man denke an die Schimpfkanonade des Feldzuges, der gegen die noch gar nicht zu einem Vorschlag verdichteten Überlegungen, wie man das Chaos unserer Kennzeichnung der Vokallänge etwas lichten könne, geführt worden ist –). Andererseits lassen sich auch zwei positive Anzeichen melden: die zunehmende Beschränkung auf wirklich entscheidende Forderungen und die wachsende Einsicht in die Bedingungen, unter denen man die Übermacht eines Objektivgebildes wie der geltenden Rechtschreibung soweit lockern kann, daß der Mensch die Herrschaft über diese seine Schöpfung bewahrt.

Der Katalog der bei einer Reform anzumeldenden Mängel unserer Rechtschreibung liegt in seinen Hauptpunkten seit mindestens 80 Jahren vor. Da sind die Probleme der Schreibung von Einzellauten: bei den Vokalen vor allem volles e und der mit e geschriebene, in Endsilben besonders häufige Murmelvokal ə, die Zwielaute ei und ai, eu und äu; bei den Konsonanten die s-Laute mit der Verteilung von s, ss, ß; die f- und w-Laute mit den Buchstaben f, v, w und ph; die mehrteiligen Konsonanten­schreibungen: also Doppel­konsonanz; dann ch, sch, ck mit dem Problem des c; ferner z und tz; schließlich ks (x). Dazu die großen Problemkreise der Kennzeichnung der Vokaldauer und der Großschreibung der sog. Hauptwörter. Als Sonderproblem meldet sich die Schreibung der Fremdwörter an. Nimmt man dazu noch die Fragen des Getrennt- und Zusammen­schreibens und der Zeichensetzung, so hat man einen ersten Eindruck davon, an wie vielen Stellen die geltende Rechtschreibung und die Überlegungen über eine sachgemäße Schreibung in Konflikt geraten. Dabei sind die Forderungen einer über unsere Buchstaben­schrift hinausgehenden streng phonetischen oder phonologischen Lautschrift noch gar nicht einbezogen.

Zweierlei erscheint sicher: Der Abstand zwischen Lautung und Schreibung ist auch im Deutschen so groß, daß wir nicht mehr von einer vollen Buchstaben­schrift sprechen können. Es ist uns nicht möglich, mit ausreichender Sicherheit von den Lauten auf die Buchstaben zu schließen, sondern in Tausenden und aber Tausenden von Fällen müssen wir wissen, wie man schreibt; das heißt: die Vorschrift der Rechtschreibung tritt in den Vordergrund, um so mehr, als die deutsche Rechtschreibung noch einige Eigentümlich­keiten wie die Großschreibung ausgebaut hat, die offenbar im Grunde weniger die Schrift als die Grammatik angehen. Damit sind also auch für uns all die Gefahren gegenwärtig, die von einer Versteinerung der Rechtschreibung aus das ganze Kulturleben bedrohen. – Andererseits ist im Deutschen der Schaden noch nicht unheilbar, der Abstand zwischen Lautung und Schreibung noch nicht so groß wie etwa im Französischen oder Englischen. Der Grundcharakter der Buchstaben­schrift hat noch das Übergewicht gegenüber dem Rückfall in die Wortschrift, dem für jedes Wort einzeln einzuprägenden Schriftbild. Die ausreichende Stärkung des Prinzips unserer Schrift erscheint noch möglich. Allerdings nicht auf einen Schlag. Wollte jemand all die genannten Probleme auf einmal anpacken, so würde er rettungslos scheitern: der Abstand des neuen Schriftbildes vom alten würde tatsächlich so groß, daß der Zusammenhang unserer Schriftüberlieferung ernstlich gefährdet wäre. Bedenken, die aus sehr verschiedenen Gründen gegen einzelne Neuerungen vorgebracht werden, würden sich zu einem unüberwindlichen Gesamtwiderstand vereinigen. Deshalb wird man einige Probleme zurückstellen, die in sich keine allzu großen Schwierigkeiten bieten, wie den Ersatz des v durch f in dem Dutzend altererbter Wörter, die früher durchweg schon einmal f hatten: Vater, Vieh, viel, vier, Vogel, Volk, voll, von; es gehören dazu nämlich auch vor- und ver-, die als Vorsilben in Hunderten von Wörtern auftreten und, da die Änderung den Wortanfang betrifft, große Umstellungen in unseren Wörterbüchern und Karteien nach sich zögen.

Es kommt also darauf an, diejenige Auswahl zu treffen, die erträglich und zugleich ausreichend ist: erträglich, indem sie den Zusammenhang unserer Schriftüberlieferung nicht gefährdet; ausreichend, indem sie eine spürbare Erleichterung schafft, die für einen längeren Zeitraum dem Drängen nach Rechtschreib­reformen Ruhe bringt. Unter diesem Gesichtswinkel treten die zwei Haupt­probleme der geltenden Rechtschreibung in den Vordergrund: die Großschreibung der Hauptwörter und die Kennzeichnung der Vokaldauer. Kann man bei diesen ein Stück vorankommen?

Wir versuchen zuerst, die zur Beurteilung der Großschreibung wichtigen Gesichtspunkte zusammenzustellen.

1. Durch keine andere Eigenart ist ein so großer Aufwand von Rechtschreib­regeln verursacht wie durch die Großschreibung der sog. Hauptwörter. Der Duden braucht mindestens vier Seiten, um eine Fülle von Regeln auszubreiten, von denen er selbst sagt, daß sie noch nicht alle Fälle umfassen.

2. Der Grund für diesen Mißstand liegt darin, daß hier unsere Schreibung in eine Aufgabe hineingeschlittert ist, die ihr im Grunde nicht zukommt, nämlich zur Veranschaulichung bestimmter grammatischer Meinungen zu dienen. Großschreibung in merklichem Umfang gibt es erst seit dem 15. Jahrhundert, und zwar aus wesentlich äußeren Gründen, und nach einem wilden Wuchern suchten die Grammatiker sie seit dem 17. Jahrhundert auf die „Hauptwörter“ zu beschränken. Was aber Hauptwörter im Sinne der Großschreibregeln sind, das läßt sich aus der Sprache so wenig ablesen, daß die Grammatiker selbst bis heute darüber nicht einig sind und also auch keine einfachen Regeln aufstellen können.

3. Dementsprechend ist das Beibringen der Großschreibung geradezu die Haupt­schwierigkeit des Schreibunterrichts. Nicht nur die reine Schreibpraxis erfordert unendliche Mühe; die Schule ist darüber hinaus gezwungen, die grammatischen Vorstellungen, auf denen die geltende Regelung beruht, in den Gesichtskreis der Kinder zu bringen, und zwar in einem Alter, in dem das Kind unmöglich diese Begriffe verstehen kann.

4. So gesehen ist die Forderung der Großschreibung das eigentliche Einfallstor des unver­standenen grammatischen Drills in die Volksschule und damit die mächtigste Gegenspielerin gegen jeden sinngemäßen Aufbau der muttersprachlichen Erziehung.

5. Dabei machen die Verstöße gegen die Großschreib­regeln immer noch ein Drittel der Schulfehler aus. Die Erwachsenen sind in zahlreichen Fällen gezwungen, entweder zum Wörterbuch zu greifen oder – was das gewöhnlichere ist – sich um die genaue Einhaltung der geltenden Regeln wenig zu kümmern.

6. Sie können das um so eher, als für den eigentlichen Zweck der Schrift von der Befolgung der Großschreibung wenig abhängt. Sehen wir von den Auswirkungen der Gewöhnung ab, so bewältigt die Kleinschreibung die Überführung vom Lautlichen ins Schriftliche ebenso gut wie die geltende Mischung von Groß- und Kleinschreibung. Und einigen sekundären Vorteilen für den Lesenden (leichteres Erkennen substantivierter Adjektive und Infinitive; Wirkung als Blickfang) stehen mindestens ebenso große Nachteile durch die Erschwerung des Schreibprozesses gegenüber.

7. Insgesamt erscheint der Kaufpreis, den die deutsche Rechtschreibung für die allein von ihr zur Dauer­einrichtung gemachte Großschreibung zahlt, zu hoch im Vergleich zu dem Gegenwert, den das Traditionsgefühl oder die geringen Sachvorzüge ihr verleihen könnten.

8. Dementsprechend sind alle Sachkenner einig, daß die verwickelte heutige Regelung nicht beibehalten werden kann. Strittig ist allerdings die Kernfrage, ob man die Großschreibung der Hauptwörter ganz beseitigen soll, oder ob es zwischen der bestehenden Regelung und dem völligen Abschaffen eine Zwischenstufe gibt, die genügend Erleichterung bietet, ohne neue Nachteile zu schaffen. Das genaue Durchprüfen der vorgeschlagenen Zwischenformen ergibt, daß eine wirkliche Lösung wohl nur mit dem völligen Aufgeben der Großschreibung der Hauptwörter zu erreichen ist. Der Gedanke, der Großschreibung dafür wieder eine echte Funktion des Hervorhebens zu geben, liegt nahe.

9. Die Voraussetzungen, daß über diese Frage eine Einigung erzielt werden kann, sind verhältnismäßig günstig. Gelingt sie, so wäre ein wichtiger Schritt einer Rechtschreibreform gemacht, der weder zu seiner Ausführung umständlicher Maßnahmen bedarf, noch einen schädlichen Bruch mit der Vergangenheit brächte, und der auch wenig Gefahren einer Zersplitterung innerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft in sich birgt. Notfalls könnte er sogar eine Probezeit vertragen.

10. Indem so unsere Rechtschreibung von einer Last befreit würde, die über ihre eigentliche Aufgabe hinausgeht (und die ihr gegenüber anderen Sprachen eine zusätzliche Erschwerung bringt), ergäbe sich die Atempause, die nötig ist, um eine Besserung an jener anderen Stelle vorzubereiten, an der die Gefahr einer Versteinerung am größten ist.

Das führt uns zu dem zweiten, viel schwierigeren Großproblem, in das die deutsche Recht­schreibung in gewisser Weise hineingestolpert ist: die Kennzeichnung der Vokaldauer. Unsere Schreibung enthält eine Anzahl von Eigentümlich­keiten, die insgesamt dazu beitragen, daß der Lesende erkennen kann, ob ein Vokal lang oder kurz ist. Das ist ein Zug, der in dieser Form in keiner anderen Schrift zu finden ist: die meisten Schriften überlassen es dem Kenner der Sprache, herauszubekommen, ob mit demselben Zeichen a ein langes ā oder ein kurzes ă gemeint ist. Es mag sein, daß für das Deutsche ein schriftlicher Hinweis auf die Vokaldauer wichtig ist. Aber auch hier ist das in keiner Weise folgerichtig aufgebaut worden. Es sind mehr zufällige Anlässe, die jeweils für einen Ausschnitt der Fälle so ausgenutzt wurden, ohne Konsequenz und ohne System:

Am ausgedehntesten die Doppelschreibung eines Konsonanten nach kurzem Vokal (all); in ziemlichem Umfang ie für langes i; in merkwürdigem Wuchern h nach langem Vokal; sehr zurückgetreten die Doppelschreibung des Vokalzeichens; es bleiben aber auch zahlreiche Fälle, in denen kein Hinweis auf die Länge oder Kürze aus der Schreibweise zu entnehmen ist.

Insgesamt sieht man, daß der deutschen Schrift an einer Kennzeichnung der Vokaldauer gelegen ist, und daß man mancherlei, was an anderer Stelle überflüssig geworden war, dafür einsetzte. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden. Aber an der eigentlichen Stelle, dem Vokalzeichen selbst, ist wenig zu sehen; vielmehr hat sich Sekundäres zusammengefunden, das den Charakter des Zufalls und der Willkür trägt, und was darüber hinaus zu einer Bedrohung des Prinzips der Buchstaben­schrift geworden ist: Schriftzeichen ohne ihren eigentlichen Lautwert (ie, Dehnungs-h), halbe Durchführung ohne erkennbaren Grund (Zahl aber Tal), doppeltes Abzielen auf Kürze und Länge ohne rechte Entscheidung (so gegen Bann nicht einfach Ban, sondern Bahn) usw. Kein Wunder, daß alle Rechtschreibreformer sich besonders mit diesem Problem herumschlagen; es steht dahinter das richtige Gefühl, daß die Kennzeichnung der Vokaldauer nicht nur praktisch Schwierigkeiten über Schwierigkeiten bringt (ein gutes Drittel der Schulfehler fällt unter dieses Kapitel), sondern daß an dieser Stelle auch die Versteinerung unserer Rechtschreibung am bedrohlichsten ist: hier hat die geltende Regel ein solches Gewirr von Verfahrensweisen legalisiert, daß man gar nicht sieht, wo man mit einer Entwirrung anfangen kann. Als Vorbereitung wäre nötig, daß man die Anforderung an die Schrift, etwas über die Vokaldauer erkennen zu lassen, nicht übersteigert (zan wäre unmißverständlich Zahn, da es Zann nicht gibt); daß man sich mit der Kennzeichnung der Kürze oder der Länge begnügt (wenn kann mit seinen zwei n auf kurzes ă weist, so hat kan mit einem n unmißverständlich langes ā, und die zusätzliche Kennzeichnung durch h ist überflüssig); daß man dort, wo die Kennzeichnung der Länge nötig erscheint, wenigstens einheitlich verfährt (wobei die Doppel­schreibung des Vokals dem Prinzip der Buchstaben­schrift am nächsten bliebe). – Aber mit all solchen Überlegungen ist wenig auszurichten. Schon allein die Vorstellung, was dann alles in Bewegung käme, genügt, um selbst Wohlmeinende die Hände über dem Kopf zusammenschlagen zu lassen 1, Und auch der weiterschauende Sachkenner wird erklären, daß dieser gordische Knoten nicht auf einmal gelöst, aber auch nicht einfach durchgehauen werden kann. Sicher werden bei einer heutigen Reform nur kleine Außenposten bewältigt werden. Eine künftige Reform in vielleicht 50 Jahren wird sich dieses Problem zur Hauptaufgabe machen können, vorausgesetzt, daß eine angemessene Lösung in der Zwischenzeit nicht nur nach allen Seiten hin geprüft, sondern vor allem im öffentlichen Bewußtsein vorbereitet ist (nicht zuletzt durch eine sachliche Aufklärung von der Schule an).


1 Von den Schreck- und Zerr­bildern, die von Unbeweg­licheren gemalt werden, gar nicht zu reden.

Es gibt übrigens eine Erklärung, die das Auftreten der „Dehnungszeichen“, vor allem des h, nicht auf das Bestreben zur Kennzeichnung der Vokallänge zurückführt, sondern auf ein Gefühl der früheren Buchdrucker, daß Wörter, die im Schriftbild nur drei Buchstaben für den Stamm aufweisen, für das Auge zu schmächtig seien und deshalb auf vier Buchstaben gesteigert werden müßten, um den nötigen Eindruck zu machen. Wenn an dieser Erklärung etwas sein sollte, dann wäre es allerdings höchste Zeit, daß man von diesen vier Buchstaben wieder herunterkäme. Dreilautige Stämme schaffen sich in der gesprochenen Rede ihr Recht; sie werden sich auch in der Schrift behaupten, ohne daß man zu Kunstgriffen kommt, die gegen das Grundprinzip der Buchstaben­schrift verstoßen.

3. HÖHERE ZIELE

So müssen wir zum Abschluß die Aufmerksamkeit noch auf eine andere Seite des Problems lenken, die im Grunde die wichtigste ist. Die Rechtschreibfragen sind ja nur ein Ausschnitt aus einem größeren Problemkreis: den Wirkungsformen, in denen die Tatsache der Schrift das Leben einer Sprachgemeinschaft durchdringt. Und die eigentümlichen Bedingungen, unter denen die Rechtschreibdiskussionen stehen, bringen uns besonders deutlich zu Bewußtsein, daß diese Wirkungen in einer unerwarteten Gewaltsamkeit verlaufen.

Unzweifelhaft ist die Erfindung der Schrift eine der größten und folgenschwersten Geistestaten der Menschheit. Schrift ist im Grunde die Ausweitung der sprachlichen Möglichkeiten des Menschen um die Dimension eines ganzen Sinnesgebietes: zu dem Reich des Akustischen wird der Bereich des Optischen der menschlichen Sprachbegabung dienstbar gemacht. Das ist ein Fortschritt, der weite Bezirke des Lebens umgestaltet hat und ohne den unsere heutigen Kulturen undenkbar wären. Aber ein solcher Fortschritt birgt in sich auch die seiner Größe entsprechenden Gefahren – und diese kommen uns selten zu Bewußtsein. Zwei solche Gefahren der Schrift sind für unseren Zusammenhang besonders wichtig. Die eine besteht in einer Verschiebung des Gleichgewichts der Sprache nach der sinnlichen Seite hin. Jedes Sprachmittel ist eine sinnlich-geistige Ganzheit, wobei dem Grundcharakter unserer Lautsprache gemäß der sinnliche Anteil aus dem Bereich des Akustischen stammt. Die Ausweitung des Sprachlautes ins Optisch-Schriſtliche öffnet zwar der Reichweite der Sprache neue Räume, aber sie beschwert sie im Kern ihrer Leistung durch sinnliche Zusatzforderungen, denen keine entsprechende Verstärkung der geistigen Leistung zur Seite steht. Diese Grundproblematik der Schrift hat schon Platon 2 als Gefahrenquelle erkannt. Wer die Art, wie die Schrifterlernung in unseren sprachlichen Entwicklungsgang eingreift, durchschaut, wird vielfältige Bestätigung für Platons Vorbehalte gegen die Schrift finden.


2 Platon, Phaidros 275 a.

Unmittelbarer begegnet uns in den Rechtschreibfragen ein zweites. Die Schrift ist der Weg, auf dem Sprache objektiviert wird. Die unbewußt in einer Sprachgemeinschaft lebende Sprache wird ins Bewußtsein gehoben, greifbar und in neuer Weise verfügbar gemacht. Dieser Prozeß der Objektivierung einer Sprache eröffnet ungeheure Möglichkeiten des Durchschauens und Auswertens der sprachlichen Kräfte. Aber diese Möglichkeiten werden erkauft durch eine ebenso große Gefahr: alle objektivierten Gebilde haben die Neigung, sich ihren Schöpfern gegenüber zu verselbständigen. Sie entziehen sich der unmittelbaren Verfügungsgewalt der Menschen, treten ihnen mit eigenen Forderungen gegenüber, und da sie zugleich zur Objektivierung eine Technik benötigen, werden sie zur Einbruchsstelle von Roboterwirkungen des Werkzeugs in den Bereich des geistigen Schaffens. Gerade wer die Rechtschreibkämpfe durchdenkt, stößt immer wieder auf Stellen, wo der Mensch nicht mehr als Herr, sondern als Höriger der Schrift erscheint. Die Verfechter der Freiheit des menschlichen Geistes gegenüber seinen Schöpfungen und andererseits die Verteidiger der Tradition der objektivierten Sprache gegen störende Unterbrechung: das sind die eigentlichen Gegenspieler, und offenbar ist auf beiden Seiten ein Teil des Rechtes. Und wir sollten die Rechtschreibkämpfe positiv auswerten: einerseits um die Grenzen der Schrift zu ermitteln, die Stellen, an denen Wohltat Plage wird; andererseits um die Formen auszubilden, in denen der Mensch mit den objektivierten Gebilden umgehen muß, um ihre Vorteile auszuschöpfen ohne ihren Gefahren zu erliegen.

Das eine ist sicher; wir können die Wirkungen der Schrift nicht mehr unkontrolliert lassen; wir dürfen vor allem nicht dulden, daß die Rechtschreibprobleme uns über den Kopf wachsen. Die Schrift ist eine Erfindung des Menschen und ihm obliegt es, die Wirkungsform und Wirkungsweite seiner Erfindung selbst zu bestimmen. Eine vertiefte Einsicht in die Quellen der Rechtschreibfragen ist die Voraussetzung für eine sinngemäße Ordnung auf diesem Gebiet. Eine Sprachgemeinschaft, die eine bestimmte Stufe der Schriftentwicklung als Rechtschreibung verbindlich gemacht hat, muß auch Vorsorge treffen, daß diese Regelung zur gegebenen Zeit überprüft wird; denn sicher wird man das Gebiet der Schrift nicht dem Gesetz des geschichtlichen Wandels entziehen dürfen. Mit der Einrichtung des Arbeitskreises für Rechtschreibregelung ist ein Ansatz geschaffen, der solche Bemühungen aus der bisherigen Erfolglosigkeit herausführen soll. Letztlich kommen diese Aufgaben einer Akademie der deutschen Sprache zu, einem aus vielen Gründen für das ganze deutsche Sprachgebiet zu fordernden Mittelpunkt, der aus umfassender Kenntnis der Lebensbedingungen einer Sprache auch die Schrift auf den Platz verweisen kann, der ihr im ganzen der Sprache zukommt.


* Nach einem Vortrag im Süddeutschen Rundfunk am 16. Dez. 1956. Schrift­tum zu dem ganzen Fragen­kreis bei L. Weis­gerber, Die Grenzen der Schrift, 1955.


Sprachforum. Zeitschrift für angewandte Sprachwissenschaft zur überfachlichen Erörterung gemeinwichtiger Sprachfragen aller Lebensgebiete. Herausgegeben von dr. Günther Kandler. Böhlau Verlag Köln Graz.