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presseartikel1955-02-04 → Diskussion über die Orthographiereform
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Volksrecht (sozial­demokratisch-gewerkschaft­liche tages­zeitung in Zürich, 1898–1969), , nr. 29

Diskussion über die Orthographiereform

Die geplante deutsche Orthographiereform und die Schweiz

Die Vereinfachung der deutschen Orthographie steht noch immer zur Diskussion. Es ist klar, daß in diesem Punkt auch die Schweiz – als ein Teil des deutschsprachigen Gebietes – ein Mitspracherecht hat. Obwohl die ganze Angelegenheit nicht von unserem Lande ausgegangen ist, müssen wir dazu Stellung beziehen, um vor allen Ueberraschungen und vollendeten Tatsachen geschützt zu sein. In diesem Zusammenhang wurde von der Neuen Helvetischen Gesellschaft am 2. Februar im Zunfthaus zum «Königstuhl» ein Diskussionsabend veranstaltet.

Der Referent Dr. Hans Zbinden (Bern) schilderte uns ausführlich die Hintergründe dieser Reformbestrebungen. Trotz allen Widerständen hat die Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege ihre Aktivität fortgesetzt, wenn auch die Stimmen, die eine radikale Reform befürworten, ziemlich verstummt sind. Im Frühjahr wird in Wien eine große Konferenz aller deutschsprachigen Länder stattfinden, an der Beschlüsse gefaßt werden sollen. Offenbar muß sich auch die Sprache im Zeitalter der Rationalisierung und Technisierung dem Gebote der Stunde anpassen. Das heißt, daß mit aller Romantik aufgeräumt werden soll; dann ist die Sprache nur ein Verkehrsvehikel wie viele andere. Während in Lehrerkreisen diese Ideen teilweise Anklang gefunden haben, lehnt der Schweizerische Presseverein sowie der Schriftstellerverein jede gewaltsame Reform entschieden ab. Da die Sprache organisch wächst, wird die Assimilation von ihr selbst besorgt. Ist es dann überhaupt notwendig und wünschbar, daß eingegriffen werde?

Der Führer der Reformer, Dr. Tielfelder, (Stuttgart) möchte durch kühne Erneuerung Ruhe für die nächste Generation schaffen. Um sich mit seinen Argumenten auseinandersetzen zu können, muß man zunächst die geschichtliche Entwicklung überblicken.

Die heutige Orthographie ist einerseits dem Schuldrill und anderseits der Macht des geeinten Deutschen Reiches nach 1871 zu verdanken. Sie geht auf Duden zurück. Damals wurde der Grundsatz aufgestellt: «Schreibe, wie du richtig sprichst!» (Gemeint ist das Bühnenhochdeutsch, das auch damals festgelegt wurde.) Und doch zeigte sich, daß es keine genaue phonetische Schreibweise gibt. Der Rationalismus des preußischen Uniformierungswillens mußte vor der Vielfalt der deutschen Sprache kapitulieren. Duden erreichte ein viel bescheideneres Resultat als er es beabsichtigte. Die weitere Vereinheitlichung kam nach 1900 zustande. Merkwürdigerweise passierte nach 1933 nichts. Die Machthaber des Dritten Reiches hatten für diese Art von Gleichschaltung keinen Sinn. Sie wollten sich auch durch Eingreifen auf diesem Gebiete ihrer Popularität nicht berauben. Später hatten sie andere Sorgen. Nach dem Zusammenbruch wurde in Stuttgart ein Auslandsinstitut gegründet, das sich mit der Orthographiereform befaßt. Diese Bestrebungen werden stark aus Wien unterstützt, während die Schweiz ausgesprochene Zurückhaltung zeigt.

Dr. Zbinden wies die vier Argumente des Stuttgarters zurück. Wenn dieser auf die Gefahr der Spaltung hinweist, so muß einfach entgegnet werden, daß niemand etwas von der Spaltung gewußt hat, bevor die Reformer auf den Plan getreten sind. Auch die Weltgeltung der deutschen Sprache hängt keineswegs von der einfachen Orthographie ab. Das beweisen die englische und die französische Sprache, deren Schreibweise komplizierter ist als die unsrige. Uebrigens wurden in Frankreich solche Reformbestrebungen mit ein paar Sarkasmen einiger Schriftsteller abgetan. Das dritte Argument von der pädagogischen Wünschbarkeit ist schon ernster zu nehmen. In der Tat nimmt der Orthographieunterricht viel zu viel Zeit in der Schule weg, wobei die Resultate enttäuschend sind. Aber daran ist nicht die Orthographie selbst, sondern die Methode des Unterrichtes schuld. Statt das Kind sofort in der ersten Klasse mit der Orthographie zu plagen, müßte zuerst sein Sprachgefühl geweckt werden. Wenn das Kind seine Sprache liebt, so wird es später auch mehr Freude an der richtigen Schreibweise haben. Uebrigens dürfen wir die Orthographie nicht tierisch ernst nehmen; sie ist keineswegs ein Maßstab für die Bildung, wie es unsere Schulmeister meinen. Kleine individuelle Abweichungen können nicht schaden; im Gegenteil – es muß auf diesem Gebiete gewisse Freiheit herrschen. Damit erledigt sich von selbst die letzte Behauptung, durch die Reform werde die Kluft zwischen den Gebildeten und Ungebildeten geringer. Und was die Reformer in ihren Empfehlungen angeben, nachdem sich die Radikalsten von ihnen – wenigstens vorläufig – zurückgezogen haben, ist herzlich wenig, so daß sich alles von selbst entwickeln dürfte.

Warum überhaupt der ganze Rummel? Zum Schluß seiner Ausführungen wies Dr. Zbinden auf die politischen Hintergründe hin. Aus einer Presseerklärung vom 27. Juni 1954 in Stuttgart geht hervor, daß die Ostzone und das russisch besetzte Oesterreich eine radikale Reform planen. Um dieser zuvorzukommen, müßten sich die freien deutschsprachigen Völker anpassen. Das ist der eigentliche Sinn des Geredes von der Spaltung. Es versteht sich von selbst, daß für uns eine Anpassung an die kommunistische Gleichschaltung und Robotisierung, die jede Tradition zerstören will, gar nicht in Frage kommt.

Der erste Votant, Privatdozent Dr. Hans Glinz, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft und Anhänger einer sehr gemäßigten Reform, bezweifelte die von seinem Vorredner angegebenen politischen Hintergründe. In diesem Falle würde der Westen nicht mitmachen. Der Sinn der Arbeitsgemeinschaft besteht darin, daß sich alle interessierten Vertreter aus jedem Sprachgebiet: Lehrer, Schriftsteller, Journalisten, Juristen, Korrektoren, Verleger und andere zur Diskussion zusammenfinden. Auf Grund dieser Beratungen sollen Beschlüsse gefaßt werden – diesmal von der kulturtragenden Schicht und nicht wie früher von einem Kultusministerium und überhaupt von Politikern.

Der zweite Votant, Dr. Friedrich Witz, vom Artemis-Verlag, betrachtet die Reformbestrebungen als weltfremd und unverantwortlich. In den Lagern der Verlage in der Schweiz sind Wertbestände von mindestens 100 Millionen Franken investiert; die Summe für das gesamte deutsche Sprachgebiet beträgt das Fünfzigfache. Es erübrigt sich, zu sagen, was für eine Verschleuderung des Volksvermögens solche mutwilligen Aenderungen bedeuten würden. Neben der wirtschaftlichen muß auch die geistige Seite berücksichtigt werden. Wir leben in einer Zeit des Beziehungsschwundes. Die junge Generation hat sich selbstgerecht von der älteren abgewandt. Es ist klar, daß die Entfremdung der Generationen durch die Reform noch größer sein würde. Die nach der alten Orthographie gedruckten Bücher würden als antiquarisch und vergreist gelten. Die Jugend, die sowieso heutzutage unzähligen, nicht gerade kulturbildenden Zerstreuungen ausgesetzt ist, würde noch weniger zu Büchern greifen.

In der anschließenden Diskussion, in der verschiedene Standpunkte zum Ausdruck kamen, überwog deutlich die Ablehnung. Die orthographischen Aenderungen sollen sich nur auf das wirklich Notwendige und praktisch Nützliche beschränken.


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