Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Das Hirn braucht Herausforderungen
fr-online.de (Frankfurter Rundschau), , Wissen, Gastbeitrag
Von Peter Struck
Sollen Kinder sowohl Druck- als auch Schreibschrift lernen? Thüringen ist dazu übergegangen, nur noch Druckschrift zu pflegen. Kritiker sagen, Verwirrungen sind lernfördernd. Der Gastbeitrag.
Meine Großmutter beherrschte noch die recht verschnörkelte, aber wunderschön aussehende Sütterlinschrift, die 1935 verbindlich als Grundschrift in den Volksschulen des Deutschen Reiches eingeführt wurde. Ab 1941 galt sie dann allerdings auf persönliche Anweisung Adolf Hitlers hin als unerwünscht. Danach lernten die Grundschüler zunächst große und kleine Druckbuchstaben und recht bald auch die „Lateinische Schreibschrift“.
Mittlerweile ist als einziges deutsches Bundesland der Freistaat Thüringen dazu übergegangen, nur noch die Druckschrift in seinen Grundschulen zu pflegen. Und Österreich, Finnland sowie die Schweiz einschließlich Liechtenstein haben es auch beschlossen. Das Argument: Künftig werden Menschen – von ihrer Unterschrift einmal abgesehen – wohl nur noch auf dem Smartphone und dem Laptop Buchstaben tippen, und Zeitungen, Bücher, Teletexte, Gebrauchsanweisungen und Verkehrsschilder verlangen ohnehin nur das Beherrschen von Druckbuchstaben.
Wie schon mit den beiden großen Rechtschreibreformen der vergangenen Jahrzehnte soll das bloße Können der Druckschrift das Lernen für die Kinder einfacher machen, sagte bereits 2010 der damalige thüringische Kultusminister Christoph Matschie (SPD). Das sei jedoch komplett dumm, argumentieren hingegen Hirnforscher wie Manfred Spitzer vom Zentrum für neurowissenschaftliches Lernen der Universität Ulm.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt zunächst in ganz Deutschland obligatorisch die „Lateinische Ausgangsschrift“ für alle Schulen. Wörter wurden mit ihr aus einer einzigen Linie heraus geschrieben, was jedoch zu individuell höchst unterschiedlichen Schriftbildern führt. Deshalb wurde gegenläufig jahrelang eine benotete Rubrik „Schönschreiben“ in den Zeugnissen geführt, bei der es um die Kombination aus Lesbarkeit und Ästhetik ging.
Verwirrungen sind lernfördernd
Etwas später wurden dann – je nach Bundesland abweichend – einige Schnörkel wie beim S, H und K entfernt, und was dann übrig blieb, hieß fortan „Schulausgangsschrift“, bis es nach Entfernung weiterer Schnörkel in die „Vereinfachte Ausgangsschrift“ einmündete, die dann schließlich 1969 durch die vom Grundschulverband empfohlene „Grundschrift“, einem Zwitter aus Lateinischer Grundschrift und Druckschrift, abgelöst wurde, allerdings nicht in der DDR, in der Schweiz und in Österreich.
Seit einiger Zeit greifen Neurobiologen in die immer stärker tobende Debatte um das Erlernen von Druck- und Schreibschrift ein, indem sie bekunden, dass die Leistungsfähigkeit der Kinderhirne beeinträchtigt werde, wenn die Schreibschrift nicht mehr parallel zur Druckschrift in unseren Schulen gepflegt wird. Das Hirn brauche Herausforderungen, um im Sinne von mentaler Gesundheit und kognitiver Leistungsfähigkeit zu wachsen.
Wer ständig zwei verschiedene Sprachen und Schriften benutze, wer täglich große und schwere Kreuzwort- und Sudokurätsel löse, würde im Schnitt länger leben und bis zu fünf Jahre später an Demenz erkranken als Menschen, von denen man ständig positiv ausgehende Verwirrungen fernhalte. Verwirrungen seien das Lernförderndste, was es gibt, allerdings nur, wenn sie in Erfolge und nicht in Niederlagen oder Beschämungen einmünden.
Positiv endende Verwirrungen, mindestens zwei verschiedene Schriften und mindestens zwei verschiedene Sprachen sorgen für das, was die Hirnforscher „Mentalisierung“ nennen; das Hirn wird flexibel und lernt danach eine dritte Sprache leichter als die zweite und die vierte leichter als die dritte, so wie die Hirne von Vätern umso flexibler und leistungsfähiger geraten, je mehr Kinder sie haben (für Mütter gibt es dazu noch keine Untersuchungen).
Wenn Verwirrungen allerdings vor allem in Niederlagen einmünden, lähmen sie unsere Hirnentwicklung, mit dem Resultat, dass der Lebensleistungsbereich, in dem es immer wieder zu Misserfolgen kommt, recht bald in Bezug auf weitere Bemühungen aufgegeben wird, was ja zu der Einsicht der Skandinavier geführt hat, bis zum 13. Lebensjahr (Finnland und Dänemark) oder 14. Lebensjahr (Norwegen und Schweden) keine Noten mehr zu geben. Eltern können solche Versagenserlebnisse sogar steuern, indem sie ihren Töchtern immer sagen, sie seien nicht gut im Rechnen und sie seien technisch schwach, und ihren Söhnen, sie seien fremdsprachliche Nieten.
Jedenfalls war es schon immer ein Fehler, Schönschreiben zu benoten, zumal Jungen und Linkshänder, die orthographisch korrekt schreiben, gaben früher massenhaft ihre Lese- und Schreibbemühungen nur deshalb ganz auf, weil sie in der Zeugnisrubrik Schönschrift ständig schlechte Noten bekamen. Alle diese Argumente gelten jedoch nur bedingt für Einzelfälle: Schwach begabte und feinmotorisch gestörte Kinder profitieren in der Regel mehr, wenn sie nur Druckschrift lernen, weil ihnen etliche Niederlagen erspart bleiben.
Denn grundsätzlich gilt in der Pädagogik der Satz: Jede Methode nützt immer nur der Mehrheit der Kinder, aber keineswegs auch einer Minderheit, ganz egal, ob man in Klasse 1 mit der Buchstabier-, der Ganzwort-, der Ganzsatzmethode oder mit der Methode „Lesen durch Schreiben“ nach dem Schweizer Pädagogen Jürgen Reichen startet.
Schönschreiben zu benoten war schon immer ein Fehler
Beginnt man hingegen mit einer anderen Methode, profitiert wieder die Mehrheit der Kinder, aber die Minderheit besteht aus ganz anderen Kindern. Die zufällig gewählte Methode werden also wie die zufällig in Klasse 1 vorhandene Klassenlehrerpersönlichkeit und das zufällige Herkunftsmilieu des Kindes zu einem größeren Schicksalsfaktor auf dem Weg zum Abitur als das, was wir Intelligenz oder Begabung nennen.
Die beiden großen Rechtschreibreformen der vergangenen 20 Jahre haben dazu geführt, dass etwa ein Drittel der deutschen Schülerschaft davon profitierte (je mehr verschiedene Schreibweisen sie nebeneinander sehen, umso besser werden sie über den Umweg der positiven Verwirrung, weil sie sich immer fragen, warum wird das Wort mal so und mal so geschrieben); für dieses Drittel müsste man ständig neue Rechtschreibreformen initiieren, weil sie dann immer besser werden.
Für ein Drittel hätte man keine einzige Rechtschreibreform benötigt. Und ein Drittel der deutschen Schülerschaft hat schon nach nur einer einzigen Reform für alle Zeiten jede Orientierung verloren: Wenn auf dem einen Schild „Schloßallee“ und auf dem nächsten „Schlossallee“ steht, kommen sie künftig mit diesem Wort nie wieder klar; da kann man noch so oft sagen, dass nach einem kurzen „o“ ein „ss“ folgt und nach einem langen aber ein „ß“, sie werden daran schon deshalb immer wieder scheitern, weil sie den Unterschied zwischen einem langen und einem kurzen „o“ überhaupt nicht wahrzunehmen vermögen.
Peter Struck, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg.
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