Bolz, Norbert:
Das Haus des Seins. Meine Woche: Schifffahrt mit drei f; "Was guckst Du?"; Die Verklärung der Sprachgettos.
Die Welt,
8. 4. 2006, nr. 84, s. 2,
Deutschland (471 wörter)
Normale Menschen interessieren sich nicht besonders für die Sprache, die sie sprechen. Man interessiert sich ja auch nicht für die Luft, die man atmet, solange sie nicht stickig ist. Deshalb darf man als Intellektueller, Dichter oder anderweitig "Kulturschaffender" nicht enttäuscht sein, daß Erika Mustermann sich nicht so recht über die Rechtschreibreform erregen kann und allenfalls ein Interesse daran hat, daß das neue Schulbuch, das sie gerade für ihr Kind angeschafft hat, auch morgen noch gültig ist. Dichter und Denker sehen das schon von Berufs wegen anders. Für sie gibt es nichts Wichtigeres als den Zustand und das Schicksal ihrer Sprache. Während normale Menschen die Sprache für ein Kommunikationsmedium halten, verehren Dichter und Denker in der Sprache das Haus des Seins. Deshalb hängt für sie sehr viel an scheinbar so kuriosen Fragen wie der, ob man Schiffahrt mit drei "f" schreibt. (Mein Computer hat "Schiffahrt" gerade als Fehler markiert!)
Warum ist es für dichter und denker anders? Auch für sie sollte es etwas wichtigeres geben als die sprache: die inhalte. Und besonders sie sollten erkennen, dass sprache und rechtschreibung nicht nur zwei verschiedene wörter, sondern zwei verschiedene dinge sind.