Die Mütter und Väter der neuen Rechtschreibung haben mit der Forcierung der Getrenntschreibung wohl eine noch breitere Verunsicherung ausgelöst als mit ihrem vorsichtigen Herumdoktern an der S-Schreibung. Was Goethe zusammengefügt hat, wird von gutwilligen Adepten des Regelwerks seither nicht selten grausam getrennt. Die vielen, vielen Beispiele der Getrennt- oder Zusammenschreibung sind eine der Ursachen dafür, dass sich das Österreichische Wörterbuch in seiner neuesten, 39. Auflage der 1000-Seiten-Marke haarscharf genähert hat.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
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Cerha, Michael
Man kann aus vielen Gründen meinen, dass die Reform "ein Fehlschlag großen Stils" war. Sicher aber nicht aus dem Grund, dass 56 Prozent der Österreicher heute noch immer "schreiben wie früher". [… Es] ist klar, dass die erste Generation, die von Anfang an nach den neuen Regeln unterrichtet wurde, heute erst zwischen acht und elf Jahre alt ist. Am späteren Verhalten dieser Generation erst wird sich entscheiden, welcher Anwendungsbreite die neue Orthographie sich auf Dauer erfreut. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Generation nach der Schule zu Rechtschreibregeln zurückkehren wird, die sie nie gelernt hat. […] 50 Prozent erklären laut IMAS, dass jeder schreiben soll, wie er will. Das ist ein Beleg dafür, dass nach dem Fehler der Regierung, die Orthographie dekretieren zu wollen, die Hälfte der Österreicher nicht in den Fehler verfällt, sie sich tatsächlich dekretieren zu lassen.
Sehr vernünftiger kommentar, aber am schluss doch noch auf die in der umfrage enthaltene falsche alternative «ausser kraft setzen» (für die schulanfänger?) - «jedem einzelnen (erwachsenen?) überlassen» hereingefallen.
Hier bereitet die Staatsschule die Kinder nicht mehr auf die gesellschaftliche, also auch sprachliche Wirklichkeit vor, sondern sie nimmt mittels der Schule selbst Einfluss auf diese Wirklichkeit. […] Denn die Lehre der Rechtschreibreform 1998/2005 ist doch offenkundig: Es wird von der Öffentlichkeit nicht mehr toleriert, wenn der Staat auf dem Gebiet der Kommunikationsweise sein Panier aufpflanzt. Dieser Staat wäre daher gut beraten, sich schnellstens und, solange es möglich ist, geordnet aus dem Gebiet der Sprachregulierung zurückzuziehen. Gelassen möge er sehen, was der Mehrheit der Sprachbenützer beliebt. Dann würde ein orthographischer Entschluss, getroffen in einer Redaktionsstube, der Politik auch kein Wochenende mehr vermiesen.
Und wie wäre es ohne reform? Nähme die staatsschule dann keinen einfluss auf die sprachliche wirklichkeit? Wo lernen denn die kinder schreiben? Zu hause? Es geht heute wie früher um die von einem Presse-gastkolumnisten formulierte frage: «Aber wer entscheidet dann, wie Schüler und Beamte schreiben?»
Die neue Rechtschreibung erfreut sich in Österreich weiterhin breiter Ablehnung. […] Die Umfrage zeigt dennoch auch, daß die Zahl der Reformgegner sinkt. […] Der endgültige Durchbruch der Reform? Nur scheinbar. Denn wahrscheinlich wird keine demokratische Regierung je wieder an eine Rechtschreibreform auch nur denken. Das ist den zahllosen, in Deutschland immer noch nicht zur Ruhe gekommenen Bürgerinitiativen gegen "das politische Diktat" zu danken.
Kein Mensch wird bestreiten, daß Joseph II. recht hatte, die Bestattung in Holzsärgen für unsinnig zu erklären. […] Die dieser Einsicht folgende kaiserliche Verordnung zur reichsweit ausnahmslosen Bestattung in Leinensäcken wurde dennoch, zumindest bis zum Erlaß der neuen Rechtschreibung per 1. August 1998, zum größten Reformdebakel österreichischer Administration. […] Wegen nicht mehr kontrollierbarer massenweiser Übertretung mußte Joseph die Verordnung alsbald zurückziehen. […] Ob Kommissionen und Duden einander um die Hegemonie prügeln, beide werden die Schreibweisen akzeptieren müssen, die sich durchsetzen.
Mit seiner schönen teorie vom bestattungswesen übersieht Michael Cerha etwas, was in der praxis entscheidend ist: die zentrale rolle der schule. Sie ist einerseits die einzige stelle, wo der staat etwas zu sagen hat. Die schule trägt anderseits nicht viel zu optimalen einsargungsmetoden bei, aber sie "macht" die rechtschreibung des übernächsten jahrzehnts — und zwar ganz unabhängig davon, ob es eine gute oder schlechte rechtschreibung ist und ob irgendwer irgendwann etwas daran ändert! Das heisst: Wenn die erziehungsdirektoren / kultusminister / unterrichtsminister nichts täten, täten sie eben doch etwas, nämlich eine ganz bestimmte variante jedes jahr neu einzuführen. Entscheidend ist, was in der schule gelehrt wird; die "prügelei um die hegemonie" ist eine episode. Für eine tageszeitung mag etwas, was sich nicht innerhalb eines jahres durchsetzt, gescheitert erscheinen. Die "architekten der reform" und die architekten einer künftigen reform (also z. b. der 1924 gegründete Bund für vereinfachte rechtschreibung oder die 1955 gegründete Österreichische gesellschaft für sprache und schreibung) sind längerfristiges denken gewohnt.
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