Der deutschen Sprache hat die Reform mehr genützt als geschadet, behaupte ich immer noch; die Literatur hat nicht gelitten (dank sorgfältiger Lektoren), und dass sich Schüler und Erwachsene heute vielleicht sogar schwerer tun, den Artikel «das» von der Konjunktion «dass» zu unterscheiden, hat nichts mit der Reform zu tun, sondern mit einer zunehmenden Schlampigkeit im Umgang mit der Sprache überhaupt.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
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Ebel, Martin
Sprache verändert sich. […] Erweisen wir uns als Kenner und Anwender von Regeln, Registern, Stilebenen, aber auch der kreativen Möglichkeiten, die Sprache bietet. Das geschieht meistens unwillkürlich. Aber immer wieder kommt Sprache auch zum Bewusstsein, wird gar zum Streitfall. So hat etwa die Rechtschreibreform über Jahre Emotionen geweckt, die in keinem Verhältnis zur Sache, also den vergleichsweise geringen Veränderungen standen; aber ob man ein gewisses Alpentier mit e oder ä schreibt, rührte offenbar bei vielen an Existenzielles.
Sprachkritik wertet also. Das unterscheidet sie von der Sprachwissenschaft, die lediglich beobachtet. «Fehler und Fehlentwicklungen gibt es in der Sprache nicht», schreibt der Sprachwissenschaftler Peter von Polenz. Am sogenannten Deppen-Apostroph («Otto's Café») würde einen Linguisten nur interessieren, wo und wie oft er auftaucht. Der Sprachkritiker dagegen wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Genitiv-s im Deutschen, anders als im Englischen, keinen Apostroph bekommt, also richtig: «Ottos Café».
Die Sprache ist voller Fallstricke, voller Zweifels- und Ermessensfragen. Auch Zeitungsredaktoren […] greifen immer wieder zum Duden (und haben das, dies nebenbei, vor der Rechtschreibreform nicht weniger getan).
Der Germanist Karl-Heinz Göttert legt eine Geschichte der deutschen Sprache vor: voller Anregungen, leicht lesbar, politisch weitherzig, aber nicht ohne Fehler. […] Die einzigen unsachlichen Ausfälle in seinem ansonsten angenehm entspannt geschriebenen Sachbuch treffen dann auch die Rechtschreibreform: Eben weil sie ein normierender Eingriff von oben war […].
Die Rechtschreibreform ist gross gestartet und in kläglichem Gezerre um Einzelfälle, Ausnahmen und Varianten versandet. Auch wenn sie im Grossen und Ganzen einen Fortschritt darstellt: Jeder, der sich ein bisschen mit der Sprache beschäftigt, kann sein Lieblingsbeispiel für mangelnde Logik finden. Er müsste aber auch zugeben: Logik und Sprache berühren sich nur am Rande; und wie logisch war eigentlich die Orthografie vor der Reform? […] Der neue Duden, jetzt in seiner 25. Auflage erschienen, hebt die neuen Schreibungen farblich gar nicht mehr hervor: Sie sind jetzt sprachlicher Alltag. Wer das ändern will, muss starke Argumente haben. Die Reform-(und Reformreform-)Gegner haben das nicht.
Der deutsche Syrer Rafik Schami führt in seinem neuen Roman ins Damaskus der Fünfzigerjahre. […] Es ist noch nicht lange her, da bewegte bei uns die Rechtschreibreform die Gemüter. Was Fritzchen einmal gelernt hatte, wollte Fritz für immer so schreiben, und viele Fritze fanden sich, unter Germanisten, Schriftstellern und Politikern. In der arabischen Welt ist eine Schreibreform noch viel schwieriger, weil jede Veränderung den Kern der Religion berührt. Der Koran […] ist auf Arabisch geschrieben, und das bedeutet für die Sprache: Rührsienichtan! (Allerdings vergessen die orthodoxen Urschriftverteidiger gern, dass schon im 7. und 8. Jahrhundert verschiedene Veränderungen eingeführt wurden, um Vokale zu kennzeichnen und Konsonanten voneinander zu unterscheiden.) Ein Schriftreformer neuerer Zeit steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Rafik Schami, der in seiner Heimatstadt Damaskus in den Fünfzigerjahren spielt. […] Meister aller Meister ist Hamid Farsi. Ihm genügt es allerdings nicht, dass sein Geschäft blüht […]. Er will mehr: eine Reform der arabischen Schrift, die überflüssige Buchstaben tilgt und neue (etwa zur Wiedergabe ausländischer Laute) einführt. […] Am Ende sehen wir Hamid im Gefängnis - ganz wie sein grosses Vorbild Ibn Muqla, ein Schriftreformer aus dem 10. Jahrhundert […]. Schami hat ihm seinen Roman gewidmet.
Die grossen Blöcke der Reform bleiben unangetastet; sie sind bereits ins Sprachbewusstsein von Millionen eingedrungen - Jüngere wissen gar nicht mehr, dass es einmal anders war - und haben keinerlei Protestpotenzial mehr. […] Fehler wird es künftig weniger geben, so viel darf prognostiziert werden. Nicht nur sind die neuen Regeln insgesamt logischer und leichter zu lernen als die alten, mit der Reform weht auch ein Wind der Toleranz durch die deutsche Orthografie. In sehr vielen umstrittenen Gebieten - und nicht nur in diesen - gibt es nämlich Varianten, das heisst mehrere Möglichkeiten, richtig zu schreiben.
Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger bietet sieben Rundgänge durch den Zaubergarten der Sprache an. Ganz ohne Polemik geht es dabei nicht ab. […] wenn er die Rechtschreibreform attackiert, zittern ganze Kultusministerien (wenigstens ein bisschen). […] Die Duden-Redaktion in Mannheim bezeichnet er als «Kommission zur Betonierung der deutschen Sprache». Die Kultusministerkonferenz ist für ihn ein Haufen von Legasthenikern, denen er unterstellt, dereinst nicht einmal vor der Abschaffung des Genitivs zurückzuschrecken. Das ist in der Heftigkeit, mit der ein Feindbild zum Popanz aufgeblasen wird, schon komisch.
Die Reform allerdings, die 1998 […] eingeführt wurde, hat viele Schwächen — was auch daran liegt, dass in einem schmerzhaften Abstimmungsprozess ein Kompromiss nach dem anderen gemacht wurde. Dieser Prozess setzte sich nach 1998 fort; in der Praxis zeigten sich Ungereimtheiten und Widersprüche […]. Im vergangenen Jahr beschloss die deutsche Kultusministerkonferenz eine Reihe von Modifizierungen und erlaubte Schreibweisen, die sie zuvor abgeschafft hatte. Diese Modifizierungen bewegten sich (wie überhaupt die ganze Reform) im minimalen — für Mathematiker: im infinitesimalen — Bereich. […] Weil so wenig verändert wurde, konnte sie die Reformwilligen nicht überzeugen, die Konservativen aber empören. […] Drittens haben die Reformer nie die Meinungsführerschaft erlangen können — was übrigens für alle in Deutschland gegenwärtig diskutierten Veränderungen gilt.
Jene Rechtschreibreform, die vor fünf Jahren in Kraft trat, ging behutsam vor, mit der Nagel-, nicht mit der Heckenschere, nach jahre-, nein jahrzehntelangem Streit war sie zum Reförmchen verkümmert. Dennoch taten etliche selbst ernannte Sprachschützer so, als ginge mit ein paar verordneten Gross- oder Auseinanderschreibungen die Welt unter, das Abendland oder wenigstens die deutsche Kultur. […] Die Schweizer, die ihre eigenen Probleme mit gesprochenem und geschriebenem Deutsch haben, sahen die Sache von Anfang an viel gelassener.
Von heiligem Zorn erfüllt, nannte Meier die Kultusminister wieder einmal stur, unzugänglich und feige; einige hätten ihm signalisiert, auf seiner Seite zu stehen, dürften dies aber nicht öffentlich zugeben. Dass die Reform weitgehend an- oder wenigstens hingenommen mit Sicherheit scheitern wird, wie Meier proklamiert: Wer will das ernsthaft glauben (oder gar wünschen)?
Die Gruppe Bibliographisches Institut/Brockhaus, zu der auch der Duden-Verlag gehört, verzeichnete ein Umsatzplus von 18 Prozent (auf 146 Mio.), was sie immer noch der Rechtschreibreform verdankt.
Sie darf nun in deutschen Schulen gelehrt werden, die umstrittene Schreibreform. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden. […] In der Schweiz hat die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren den deutschen Richterspruch «mit Dankbarkeit» zur Kenntnis genommen. […] Einheitliche Schreibung müsse zwar sein — aber dies bedeute «nicht notwendig Übereinstimmung in allen Einzelheiten». Die Reform als quantité négligeable? Das ist nach dem erbitterten Streit dann doch eine Überraschung.
Man kann mit guten Gründen der Meinung sein, es sei grober Unfug, das höchste deutsche Gericht überhaupt mit der Frage zu befassen, ob sitzenbleiben künftig immer auseinander geschrieben werden und bei den Kommaregeln etwas freier verfahren werden dürfe. […] Ein Rechtschreibtest bei erwachsenen Deutschen kam zu dem Ergebnis, dass fast die Hälfte nur die Noten «mangelhaft» oder «ungenügend» verdienten. […] Ein unübersichtlich gewordenes Regelwerk vorsichtig zu beschneiden mag auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht ganz ungerechtfertigt sein. Und der Rechtsberater der Bundesregierung präsentierte den Richtern gar noch einen Grundrechtsparagraphen, auf den sich der staatliche Eingriff berufen darf. Es ist Artikel 7,1: «Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.»
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