Halter, Martin:
Der Wortverbesserer.
Tages-Anzeiger,
28. 7. 2011, s. 21,
Kultur & Gesellschaft (887 wörter)
Verleger und Korrektoren, Verwaltung und Handel forderten […] Regeln für eine einheitliche, einfache und präzise Rechtschreibung, aber die Reformer waren schon damals heillos zerstritten und ziemlich weltfremd. Während die «historische Schule» nach dem Vorbild der Gebrüder Grimm eine Rückkehr zur mittelhochdeutschen Rechtschreibung (konsequente Kleinschreibung, Leffel statt Löffel, Bine statt Biene) forderten, wollten die Anhänger einer phonetischen Schreibung das Dickicht der Dehnlaute und unterschiedlichen Schreibweisen radikal lichten. Statt f, ph und v etwa sollte es nur noch ein f geben. Vom Vogel zum Fogel also. Duden wusste als erfahrener, pragmatischer Schulmann und Demokrat, dass man eine Rechtschreibreform, die auch das ungebildete Volk nicht ausschloss, nicht von oben herab dekretieren konnte. Auch er plädierte für die Kleinschreibung aller Substantive und eine gemässigte phonetische Reform («Schreibe, wie du sprichst»), aber wichtiger als die elitäre, abstrakte Richtigkeit war ihm eine praxistaugliche, konsensfähige Rechtschreibung für alle.
Heillos zerstrittene und weltfremde reformer? Der autor ist offenbar von der einheitsideologie des 19. jahrhundert so ergriffen, dass er auch von visionären und kreativen wissenschaftern erwartet, im preussischen gleichschritt daherzukommen. Es wäre doch nur natürlich, wenn es unterschiedliche, auch gegensätzliche visionen gäbe. Aber so ist es nicht einmal; es gibt nur leute mit und solche ohne visionen. Und nicht einmal die sind übermässig zerstritten, wenn man mit beliebigen anderen zeitfragen vergleicht.