Verluste tun manchmal mehr weh als Gewinne gut. Das Problem jeder Reform ist, daß mit ihr eine Änderung des Status quo verbunden ist, der aber als solcher hohe Wertschätzung genießt. Viele Nachteile des Status quo haben den Charakter von Opportunitätskosten (entgangenes Wachstum, entgangene Einkommenszuwächse, entgangene Beschäftigungsmöglichkeiten), die in der menschlichen Beurteilung aber nicht in dem Maße durchschlagen. Demgegenüber haben die Kosten von Reformen oft den Charakter einer direkt spürbaren pekuniären Belastung (Abbau von Sozialleistungen und Subventionen), die im psychologischen Kalkül stärker zu Buche schlagen. […] Eine zentrale Rolle darin spielt der Widerstand der Reformverlierer, der oft politisch wirksamer ist als die Unterstützung der Reformgewinner für Veränderungen. Die Psychologie bietet mit ihren Erkenntnissen über die Verlust-Aversion eine Erklärung für diese Asymmetrie. Verlust-Aversion ist eine Beurteilungsweise, bei der eine Verschlechterung in bezug auf einen Referenzwert intensiver erlebt wird als eine nach dem Betrag gleiche Verbesserung. […] Die Verlust-Aversion erklärt die Durchschlagskraft der Reformverlierer: Diese erleben die Verluste intensiver als Gewinner ihre Verbesserungen. […] Status-quo-Präferenz, Besitzeffekt und Verlust-Aversion haben eine Paradoxie zur Folge: Wenn Wähler im Ausgangspunkt zwar noch Reformen ablehnen, würden dieselben Wähler nach Reformen möglicherweise nicht zum ursprünglichen Zustand zurückkehren wollen […]. Eine Rückkehr zur alten Situation würde von den Reformgewinnern nun als Verlust betrachtet, der ungleich intensiver erlebt würde als umgekehrt der Gewinn durch die Reform.
Zum beispiel bei jeder rechtschreibreform: Der (übrigens begründete) verzicht auf zu weit gehende rein grafische bedeutungsdifferenzierung wird beklagt. Anderseits bejubelt niemand den gewinn an anderer stelle (eindeutigkeit von stillleben, rückauflösung der ck-/kk-trennung), weder die gegner noch (in einem vergleichbaren ausmass) die befürworter.