Die Redaktion der Berliner Zeitung erhält regelmäßig Manuskripte, die voll und ganz und überaus akkurat nach den alten Rechtschreibregeln abgefasst sind. Oft stammen sie von älteren Autoren. Die Unterstellung, dass diese sich noch immer in einem längst vergeblichen Kampf gegen die 1996 vollzogene Rechtschreibreform befinden, geht jedoch fehl. Die entsprechenden Korrekturen in ihren Texten nehmen sie in der Regel unkommentiert hin, sie scheinen lediglich für sich und ihr Schreiben befunden zu haben, sich nicht mehr an das neue Regelwerk anzupassen. Die Wirklichkeit der geschriebenen Sprache gibt ihnen recht. Was seit der sogenannten Rechtschreibreform im alltäglichen Schriftverkehr umgesetzt wird, ist wenig kohärent und folgt vielmehr dem Wildwuchs beliebiger Anwendungen. Das gilt nicht zuletzt auch für Versuche, der Geschlechterdiskriminierung in der Sprache Einhalt zu gebieten und sie durch Doppelpunkt, Stern oder andere schriftsymbolischen Setzungen nicht nur kenntlich zu machen, sondern gleich zu beheben.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
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Nutt, Harry
Nicht wenige gingen dazu über, das „ß“ ganz aus ihren Überlegungen zu tilgen, obwohl es doch, weiß Gott, seine Existenzberechtigung nicht vollends verloren hat. Für diejenigen, die Rechtschreibregeln ohnehin als lästige Pflicht verachteten und sich ungern von Besserwissern belehren ließen, wurde die Reform zum Freibrief, alles anders zu machen.
Die deutsche angst vor dem verlust von sekundärtugenden.

20 Jahren wurde die umstrittene Rechtschreibreform auf den Weg gebracht – Eine Bilanz in digitaler Zeit.
Wer die Schreibschrift aus der Schule verbannt, trägt zum Verschwinden einer nützlichen Kulturtechnik bei. Sie ist durch die Digitalisierung ohnehin schon stark bedroht. […] Die umständliche Reform der öffentlichen Rechtschreibung vor einigen Jahren hat zahlreiche neue Regeln formuliert und alte Übereinkünfte aufgehoben. Am Ende aber hat diese Rechtschreibreform vor allem bewirkt, dass jeder machen kann, was er will. In der digitalen Kommunikation wird klein geschrieben, abgekürzt und je nach Bedürfnislage neu montiert.
Die Einschränkungen und Relativierungen, die zur korrekten Beschreibung des inhaltlichen und politischen Rahmens der Neuregelung erforderlich sind, deuten darauf hin, dass eher ein Flickenteppich zusammengenäht als ein großes Reformwerk in die Spur gesetzt wird. […] Trotz alledem ist das verbindliche Inkrafttreten der neuen Regeln im Sinne gleich mehrerer Jahrgänge von Schülern zu begrüßen […]. Vom 1. August an wird zwar nicht große Gewissheit über den korrekten Gebrauch von Schreibungen und Interpunktion herrschen, aber es gelten verbindliche Regeln, denen sich zu einem späteren Zeitpunkt wohl auch die Abweichler Bayern und Nordrhein-Westfalen anschließen. Selbst wenn sie es nicht tun, dürfte das Chaos ausbleiben. In einer Zeit, in der die geschriebene Sprache gegenüber dem von elektronischen Medien verbreiteten gesprochenen Wort immer mehr auf dem Rückzug ist, haben Veränderungen der schriftlichen Konventionen allenfalls marginale Bedeutung. […] In der bizarren Debatte über die Rechtschreibreform war wiederholt vom Scheitern die Rede. Gescheitert ist am Ende jedoch weniger die Reform selbst als das politische Verfahren, das sie zu durchlaufen hatte.
Ignoranz allenthalben: Die Befürworter der Rechtschreibreform übersahen das Vermittlungsproblem, die Gegner tauchten spät auf.
Inzwischen kommt die politische Trachtengruppe, die gegen den Föderalismus antritt, unmittelbar aus den Ämtern der Landeshauptstädte, ja aus den höchstens Ratszimmern selbst. In einer konzertierten Aktion haben die Ministerpräsidenten Stoiber (Bayern), Wulff (Niedersachsen) und Müller (Saarland) das formal durch die Kultusminister besiegelte Verfahren zur Verabschiedung der Rechtschreibreform wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Was jahrelang die Gemüter der Schriftbenutzer erhitzt und die zum Umlernen gezwungenen Schüler gequält hat, soll nun durch ein ministerielles Machtwort in die Revisionsschlaufe geschickt werden.
Ohne Not hat man mit allerhand sozialtechnologischem Brimborium an etwas herumgedoktert, was auch ohne Reform ganz gut funktionierte.
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