In keinem der großen europäischen Länder ist die Kluft zwischen der Sprache des Volkes, des Alltags zumal, und der Sprache der Literatur so tief wie in unserer Welt: Niemand sprach vor hundert Jahren, wie Rilke oder Thomas Mann geschrieben haben, niemand spricht heute wie Günter Grass, wie Enzensberger oder Siegfried Lenz. Eine gemeinsame Ebene, auf der sich der künstlerische Ausdruck mit dem Ausdruck des Volkes treffen würde, hat es bei uns – anders als in England oder gar in Frankreich – nie gegeben. […] Ob diese Zweiteilung in Zukunft erhalten bleiben wird, können wir nicht voraussehen. Aber wir können immerhin einer ähnlichen Zweiteilung im Bereich der Orthographie entgegenwirken. Mit anderen Worten: Es wäre verheerend, sollte es sich einbürgern, dass für die Schriftsteller eine andere Rechtschreibung gilt als für die Schüler unserer Grundschulen. Die Kluft, von der die Rede war, würde noch tiefer.
Das volk beherrscht die rechtschreibung nicht, die schriftsteller beherrschen sie nicht – wo ist da eine kluft?