Der Landtag will den erst knapp ein Jahr alten Volksentscheid zum Stopp der Reform am Freitag aufheben. […] Dennoch haben alle Landtagsfraktionen erhebliche "politische Bauchschmerzen" bei ihrem Umgang mit Volkes Wille. Denn immerhin wird nun der bisher erste und einzige erfolgreiche Volksentscheid nach kurzer Dauer wieder kassiert.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
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Stahl, Urs = US
Auch die Behauptung, nun gebe es immerhin wieder eine gemeinsame Rechtschreibung in der Republik, ist eine Mär. Die Schüler schreiben anders als die Zeitungen, die einige Ungereimtheiten bekanntlich nicht mitmachen. […] Vor allem aber stehen die Parlamentarier vor einem Glaubwürdigkeitsproblem.
Der Landtag will den Volksentscheid zum Stopp der Rechtschreibreform an den schleswig-holsteinischen Schulen nach knapp einem Jahr wieder außer Kraft setzen. […] Die Volksinitiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" kündigte […] "gegen diese Verarschung des Volkes" Verfassungsklage an.
Der Pinneberger Jens Behrendsen, der für seine beiden Töchter Unterricht nach den neuen Rechtschreibregeln durchsetzen will, ist beim Verwaltungsgericht in Schleswig vorerst gescheitert. […] Sein Anwalt hat die Niederlage in Schleswig allerdings einkalkuliert. Er will, so sagte er schon bei der Ankündigung der Klage, durch alle Instanzen gehen, um den Weg zu einem neuen Urteil des Verfassungsgerichts frei zu machen.
Bertelsmann versuche, so Dräger, die Marktführerschaft des Duden anzugreifen. Inzwischen habe der Preisbindungshänder der Verlage, Rechtsanwalt Dieter Wallenfels, Klage gegen derartige "marktverstopfende Werbemaßnahmen" angekündigt. Auch der Dudenverlag hat bekanntgegeben, er wolle vor Gericht ziehen.
Die Verwendung der in den anderen Bundesländern geltenden reformierten Orthographie wird als falsch angestrichen, aber nicht als Fehler gewertet. […] Der Erlaß gilt zunächst für zwei Jahre, also bis Ende 2000. Dann prüft der Landtag, welche Konsequenzen aus der bundesweiten Rechtschreibentwicklung zu ziehen sind.
Die Lehrer müssen wieder nach der bisherigen Rechtschreibung unterrichten und die neuen Schreibweisen korrigieren. Aber die reformierte Orthographie darf nicht als Fehler angerechnet werden. […] Zugleich hat der Landtag Wahlanfechtungen gegen den Volksentscheid zurückgewiesen.
Wie sehen Sie die Chancen, daß nach dem Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein ein neuer bundesweiter Konsens zur Korrektur der gröbsten Fehler gefunden werden kann? Ute Erdsiek-Rave: Korrekturen innerhalb der Rechtschreibreform, denke ich, wird es geben. In Schleswig-Holstein werden wir diese Entwicklung nicht betreiben können. Hier müssen wir laut Entscheid die älteren Schreibweisen an Schulen verwenden. In den nächten zwei Jahren wird sich entscheiden, ob sich die Reform, wie auch immer, durchgesetzt hat.
Die Initiative gegen die Rechtschreibreform fordert die Landesregierung auf, die Arbeit der Kultusministerkonferenz (KMK) so lange durch ihr Vetorecht zu blockieren, bis das Gremium einlenkt und die Reform auch in den anderen Ländern stoppt.
Mit verlaub: Das ist kindisch!
Mit dem neuen Kompromiß der Landtagsfraktionen zur Rechtschreibreform sind die Initiatoren des Volksentscheides nur teilweise einverstanden. "Wir hoffen aber, daß es nun zu einem sanften Ausstieg aus den experimentellen Schreibweisen kommt und wollen die Entwicklung erst einmal gelassen abwarten", sagte der Sprecher der Initiative, Matthias Dräger.
Welche rechtschreibung will man nun in Schleswig-Holstein? Die alte anscheinend nicht, denn gemäss alter (und neuer) regelung braucht es bei einem eingeschobenen nebensatz 2 kommas: "Wir hoffen, daß es kommt[,] und wollen abwarten."
Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD) will nun doch versuchen, den Streit um die Rechtschreibreform durch einen überparteilichen Konsens zu lösen.
Der schleswig-holsteinische Landtag hat das Wirrwarr der gegensätzlichen Meinungen über die Rechtschreibreform gestern nicht lichten können. Vielmehr haben sich die Gräben in einer Aktuellen Stunde vertieft. Die Konsequenzen aus dem Volksentscheid gegen die Neuschreibung sind umstrittener denn je.
Ekkehard Klug (FDP): […] Wozu zahlen wir viel Geld an diese Kultusministerkonferenz, wenn sie auf den Volksentscheid nicht reagiert und Schleswig-Holstein im Regen stehen läßt. […] Ministerin Böhrk: Selbstverständlich wird der Volksentscheid in der Kultusminister-Konferenz besprochen. Ich sehe aber nicht, daß andere Länder dem Volksentscheid folgen.
Der Entwurf für einen Erlaß zur Umsetzung des Volksentscheides gegen die Rechtschreibreform nimmt Gestalt an. Die Gegner der Neuschreibung verlangen je nach Alter der Schüler gestaffelte Übergangsfristen für die Rückkehr zur bisherigen Orthographie. […] Niemand wolle die Verwendung der neuen Schreibweise den Schülern als Fehler ankreiden. Ab sofort aber sollte die Verwendung der in Schleswig-Holstein nicht mehr zulässigen "experimentellen Schreibweise" zumindest für die älteren Schüler als "nicht üblich" gekennzeichnet werden. Die Absicht von Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD), nur noch die alte Schreibweise zu unterrichten, aber trotz des Volksentscheides die alten und die neuen Schreibweisen unbefristet nebeneinander als korrekt gelten zu lassen, lehnt der Elternverein entschieden ab.
Die Forderung nach einer bundesweiten Korrektur oder einem generellen Stopp der Rechtschreibreform wird jetzt auch vom Landeselternbeirat der Grund-, Haupt- und Sonderschulen und der Schülervertretung der beruflichen Schulen erhoben.
Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD) plant einen Erlaß, wonach zwar die neuen Schreibweisen ab November an den Schulen nicht mehr gelehrt und geübt werden dürfen. Zugleich aber sollen auch die neuen Schreibweisen auf Dauer akzeptiert und nicht als Fehler gewertet werden. […] Die CDU-Bildungsexpertin Angelika Volquartz protestierte: "Das ist eine Mißachtung des Volksentscheides." Sie und die Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" forderten Böhrk zum Rücktritt auf. […] Ulrich Kliegis, Vorsitzender des Elternvereins, sagte, der Volksentscheid mache es möglich, daß die Eltern ihren Kindern endlich wieder beim Rechtschreiben helfen können. […] Irene Fröhlich, Vorsitzende der Grünen-Landtagsfraktion, wirft der SPD vor, das Gezerre um den Text des Abstimmungszettels und den Abstimmungstermin habe die Abwehrhaltung der Bevölkerung gegen die Schreibreform gesteigert. Sie glaubt aber, nach einer Übergangsfrist von zwei bis drei Jahen werde auch Schleswig-Holstein wieder zur Schreibreform zurückkehren.
Der "Neuschrieb" soll, als hätte es den Volksentscheid nicht gegeben, auf unbegrenzte Zeit an den Schulen neben der herkömmlichen Schreibweise gleichwertig anerkannt bleiben. […] Jetzt ist die letzte Chance, die Reform bundesweit zu stoppen und zu korrigieren. Wenn Böhrk das immer noch nicht erkennt, sondern sich in erneuten Tricksereien übt, wird sie bald ihren Hut nehmen müssen.
Zum Abschluß der Aktion trat Dräger gestern mit einer Reihe nahmhafter Kieler Professoren auf. […] Der Germanist Prof. Hubertus Menke registriert unter Kollegen Empörung.
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