Wohlbekannt ist etwas anderes als wohl bekannt – das Beispiel, seinerseits wohlbekannt, steht hier einmal mehr für die Einsicht, dass die Rechtschreibreform in einem entscheidenden Punkt Chaos angerichtet hat: in der Vernebelung der Differenz zwischen wörtlicher und übertragener Redeweise.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
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Su. = Surber, Peter
Die Gesellschaft für deutsche Sprache und Literatur St. Gallen wird 100 – und hört auf. […] Sprachpflege wurde, sieht man von Diskussionen zur Rechtschreibreform ab, […] kaum noch betrieben.
Allerdings: Viele Schülerinnen und Schüler kämpften heute mit Schreibproblemen auf elementarster Ebene; im Vergleich dazu diskutierten die Reformkritiker auf Champions-League-Niveau.
Ja, so abgehoben, aber in grümpelturnierqualität.
[…] in der Tat ist die neue Orthographie eine Quelle der Verunsicherung und wird es bleiben – Regelsicherheit und Unzweideutigkeit lassen sich als Folge der verunglückten Reform wohl auf längere Sicht nicht wieder herstellen.
Diverse Medien (so auch unsere Zeitung) folgen den SOK-Regeln. Jetzt aber gehe es um die Schule. Und damit sei die Politik gefordert – wo sich allerdings zwischen Bund und Kantonen niemand zuständig fühle, wie Nationalrätin Kathy Ricklin sagte. Das heutige «Desaster» brachte Autorin Gisela Widmer auf den Punkt: Den Jungen sei die Orthographie schlicht egal. Ein Flurschaden, an dem Mails und SMS ihren Anteil haben – aber auch die verunglückte Rechtschreibreform.
Den alten ist die ortografie manchmal auch egal, wie der falsch geschriebene name der nationalrätin zeigt.
Su.:
Stöckling verbietet Rechtschreibkurs.
St. Galler Tagblatt,
5. 4. 2006 (87 wörter)
Der Staat könne nicht in seinen Schulen die neue Rechtschreibung durchsetzen und zugleich einen Kurs der Kritiker finanzieren.
Surber, Peter:
Stöckling kippt Rechtschreibkurs. Wegen reformkritischer Referenten: St. Galler Erziehungsdirektor verbietet Weiterbildung für Gymnasiallehrer.
St. Galler Tagblatt,
5. 4. 2006, s. 11,
Ostschweiz (581 wörter)
FORMI-Kurs 2006-58 ist abgesagt. «Von alt zu neu – von neu zu alt: Die neue Rechtschreibung – Hinweise, Klärungen und Stellenwert»: So sollte das Thema lauten. […] Neben Andreotti waren als Kursleiter der in Gossau unterrichtende Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann und der deutsche Germanist Theodor Ickler genannt. Beide treten als lautstarke Kritiker der Reform auf. «Drei ausdrückliche Gegner der neuen Rechtschreibung machen miteinander einen Kurs zulasten der Steuerzahler: So geht das nicht», begründet Stöckling seine Veto auf unsere Anfrage. […] Es gehe nicht darum, eine Diskussion abzuklemmen; selbstverständlich hätte er nicht reagiert, wenn der Kurs ausgewogen besetzt gewesen wäre.
Hier hat der Lehrerverband LCH die jüngsten Reformvorschläge in einem fünfseitigen Papier zurückgewiesen. Die Nachrichtenagentur SDA meldet Widerstand an, und der «Sprachkreis Deutsch» fordert in einem offenen Brief die Erziehungsdirektoren zu einer «sprachwissenschaftlichen Überprüfung des ganzen Regelwerks» auf. Diese Forderungen weist EDK-Präsident Hans Ulrich Stöckling auf unsere Anfrage hin zwar zurück. […] Aber die jüngsten Reformvorschläge hält auch er für unausgegoren. […] Allerdings relativiert der LCH seine Kritik gleich selber: Im Vergleich mit solchen Orthografie-Detailfragen bewegten sich die Schreibsorgen der Schülerinnen und Schüler «auf einem massiv tieferen Niveau. Schulen wären glücklich zu preisen, wenn dort nur noch Fehler in den genannten Bereichen gemacht würden».
Stöckling: Der von der Kultusministerkonferenz Deutschlands zusammen mit Österreich und der EDK eingesetzte Rat für Deutsche Rechtschreibung hat jetzt neue Vorschläge unterbreitet. Über diese ist kein vernünftiges Vernehmlassungsverfahren durchgeführt worden. Deshalb haben wir mitgeteilt, die Schweiz würde diese Neuerungen vorderhand nicht übernehmen. […] Zurzeit besteht zumindest aus der Sicht der Ausbildung kein Grund zur Aufregung. Die neuen Regeln werden in der Schule diskussionslos angewandt, und die Schülerinnen und Schüler kennen gar nichts anderes.
In Deutschland ist die Rechtschreibreform abgesegnet, bei uns im Prinzip auch — aber damit geben sich die Gegner der Reform nicht zufrieden. Die deutschen Kultusminister haben entschieden, die Reform — mit einigen zusätzlichen Freiheiten — nach der Übergangsfrist definitiv einzuführen auf August 2005. Dieser Entscheid mache die Lage für die Schweiz jedoch nicht klar, erklärt der St. Galler Reformgegner Stefan Stirnemann vom «Arbeitskreis Orthographie» auf Anfrage. «Der springende Punkt ist, dass im nächsten Jahr nicht die Regeln von 1996 verbindlich werden sollen, sondern veränderte.» […] Von einem solchen Moratorium will die EDK allerdings nichts wissen.
Weitere knapp hundert Jahre später wird Dudens Werk immer lauter nachgetrauert. Der umstrittenen Reform der Rechtschreibung hat sich unlängst auch die Zeitschrift «Schweizer Monatshefte» gewidmet. Sie argumentiert unter der Regie des St. Galler Reformgegners Stefan Stirnemann durchwegs reformkritisch.
Die Getrennt- und Zusammenschreibung ist als Ganzes gar nicht so kontrovers, wie manche in bewusster Übertreibung behaupten. Im Grunde geht es nur um die Wortart Adjektiv, genauer um Verbindungen, in denen Adjektive (und Partizipien) auftreten. […] Natürlich prüft die Kommission solche Kritiken ernsthaft. Wir wissen allerdings auch von der letzten staatlichen Neuregelung, 1901, dass sich unter den Schriftstellern immer einige finden, die jegliche Abkehr vom Vertrauten ablehnen. Nach 1901 brauchte es zwanzig Jahre, bis sich Änderungen wie Rat (statt Rath) oder Kasse (statt Casse) auch in der Belletristik durchgesetzt haben. Das gilt auch für die Aufgabe differenzierender Schreibungen im Laufe des 19. Jahrhunderts, denen heute niemand mehr nachtrauert, zum Beispiel sein (Pronomen) gegen seyn (Verb).
Die «Lüürik» im Dialekt, für die Morger ein eigenes System, eine eigenwillige und phonetisch hochpräzise Rechtschreibung entwickelt hat, bot dabei gewiss einen Fluchtort, eine Sprachheimat, in der er ganz zuhause war: «Wött nu König sii vo mer sälber.»
«Herliche Berge, sonnige Höhen — ja, es wahr wunderschön hier oben.» Der Eintrag im Hüttenbuch auf zweieinhalbtausend Metern klingt noch in unseren Ohren nach. […] Im Internet, dem globalen Hüttenbuch, wird heute schon allen Rechtschreibregeln gespottet.
Am besten nimmt man die Sache wohl mit jener Unaufgeregtheit, die ihr angemessen ist. Auf den folgenden Seiten finden Sie eine Zusammenstellung der wichtigsten Neuerungen. Dass sie der Weisheit letzter Schluss seien, behauptet niemand — die neue Rechtschreibung wird sich in den nächsten Jahren noch «zurechtschreiben» müssen.
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