Ende Oktober letzten Jahres wandte sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mit einer «Denkschrift» an die «obersten Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland». […] Im langen Streit um die Rechtschreibreform habe die Akademie für einen fachlich fundierten Kompromiss gesorgt und so einen «Kulturbruch» heilen können, heisst es da. […] Anhänger der alten Orthographie, die dem von der Akademie mitgestalteten Rechtschreibekompromiss nicht grün waren, erneuerten ihre Aversion gegen die Darmstädter Institution […]. Mit Müh und Not positionierte man sich damals im Rechtschreibestreit; wenig fehlte, und die Akademie hätte diese Debatte verschlafen. […] Orthographische Streit- und Rätselfragen beantwortet die linguistische Fraktion der Akademie gern mit historischer Relativierung - da tun sich dann meist mehrere Möglichkeiten einer korrekten Schreibung auf, und der nach strikten Direktiven verlangende Bürger bleibt frustriert zurück. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
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gü. = Güntner, Joachim
Sprachvereine befürchten ihre Degeneration, Firmen bemängeln das Ausdrucksvermögen der Schulabgänger, Ratgeber für «gutes Deutsch» finden beständig Absatz und behaupten implizit, ohne ihre Hilfe werde schlecht gesprochen. Der unseligen Rechtschreibreform wirft man vor, Konfusion statt Sicherheit im Gebrauch der Regeln geschaffen zu haben. […] So zahlreich die Klagen sind, so sehr mangelt es an fundierten Diagnosen. Dieser Auffassung jedenfalls ist die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die im Verbund mit der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften einen «Bericht zur Lage der deutschen Sprache» vorgelegt hat.
Das Zauberwort der Reformer ist «Entlastung». Es spielte schon in den Debatten um die Rechtschreibreform seine zweifelhafte Rolle. Ein Referatsleiter im niedersächsischen Kultusministerium erklärte mir damals, man wolle die orthographischen Hürden für die Schüler herabsetzen, damit ihr Kopf frei werde «für Wichtigeres, stilistische Kompetenz zum Beispiel». Die Rechnung ist nicht aufgegangen.Es geht nicht darum, hürden herabsetzen, aber die obligatorische schule darf keine unnötigen hürden aufbauen. Vgl. auch Das aktuelle zitat.
Staatsfern – das war eine der Lehren aus der Nazizeit – wollte die Deutsche Akademie immer sein; dass sie es auch praktisch ist, zeigte etwa ihr Widerstand gegen die von oben verordnete Rechtschreibreform.
Für die nöte anderer länder mit ihrer vergangenheit haben wir verständnis, nicht aber für das unreflektierte nachbeten der floskel «von oben verordnet» in einer schweizer zeitung.
[…] und die Sprachwissenschafter Wolfgang Klein und Jürgen Schiewe signalisieren, dass die Akademie auch dann ihre linguistischen Kompetenzen ausbaut, wenn einmal gerade nicht über die Rechtschreibreform gestritten wird.
Der Austausch mit den Germanisten der Universität Lemberg war rege, und als beglückend empfand man den Andrang der Studenten zu Veranstaltungen, wo etwa Peter Eisenberg über den Stand der deutschen Rechtschreibreform berichtete (Fazit: Vieles ist wieder beim Alten, und irgendwann wird der irritierte Schreiber wieder ohne den permanenten Griff zum Wörterbuch auskommen) und Heinrich Detering die Lage der germanistischen Literaturwissenschaft skizzierte, die er als von wechselnden Methoden und Moden sowohl gebeutelt wie befruchtet beschrieb.
[…] und jetzt schwenkt auch die «FAZ» auf die allgemeine Linie der amtlichen Rechtschreibung ein. Die Reformgegner in Deutschland verlieren damit ihre wichtigste Bastion. Die «Süddeutsche Zeitung» («SZ») und die Blätter des Axel-Springer-Verlags praktizieren die neuen Regeln bereits. Alle drei Pressehäuser hatten anfangs die reformierte Orthographie eingeführt, störten sich an deren Ungereimtheiten jedoch so sehr, dass sie zur traditionellen Schreibung zurückkehrten. («Der Spiegel» kündigte ebenfalls eine Rückkehr an, beliess es dann aber bei Lippenbekenntnissen.)
Wie war das mit der SZ? Ein beweis mehr, dass niemand darauf achtet, in welcher ortografie eine zeitung erscheint.
Auch jetzt ist längst nicht alle Unzufriedenheit getilgt, aber der zwischen Reformern und Traditionalisten erzielte Kompromiss hat die grössten Steine des Anstosses aus dem Weg geräumt. Längerfristige Verbindlichkeit scheint möglich. […] Keine Änderungen hat der Rechtschreibrat im Bereich der Zuordnungen von Lauten und Buchstaben vorgenommen. […] Die NZZ folgt diesem Usus weitgehend, jedoch nicht bei einigen Einzelfällen mit Umlauten. Aus der Gams wird bei uns nicht die «Gämse», sondern weiterhin die Gemse […]. Den Grundgedanken, dass Bindestriche der besseren Lesbarkeit von Wortzusammensetzungen dienen sollen, teilt die NZZ und ist daher in einem Punkt sogar progressiver als das Reformwerk […]. Die reformierte Zeichensetzung in der Fassung von 1996 hatte vor allem für Ärger gesorgt […]. Die NZZ hat hier immer an der traditionellen Schreibung festgehalten […]. Die von vielen Traditionalisten bekämpfte Trennung von st und die Abtrennung von ck […] behalten ihre Gültigkeit, doch dürfen Einzelbuchstaben nun nicht länger einsam ans Zeilenende zu stehen kommen. Auch sind sinnwidrige Trennungen, wie sie die Reform erlaubt hatte, jetzt untersagt. […] Heute dürfen die Pronomina «Du» und «Deiner» in Briefen wieder gross geschrieben werden; das Gleiche gilt für feststehende Begriffe […]. Der «Neuen Zürcher Zeitung» geht diese Erlaubnis, die auch Kuriosa wie das «Neue Jahr» einschliesst, zu sehr ins Uferlose […]. Zusammengeschrieben wird, wenn die Verbindung eine übertragene bzw. eine neue Gesamtbedeutung erhält […].
Wer hätte je geglaubt, einem Goldesel könnte es gefallen, als Rechtschreib-Wörterbuch zu inkarnieren? Und doch ist es so. Die nur auf den ersten Blick dürren Etats, welche der schreibende Teil der deutschsprachigen Menschheit zur Verbesserung seiner orthographischen Kompetenzen aufzubringen bereit ist, bieten dem Grautier eine saftige Weide. […] Der Nachwuchs aus dem Geschlecht der Dudens zeichnet sich dadurch aus, dass er die Anweisungen seines Hirten, des Rats für deutsche Rechtschreibung, beharrlich unterläuft. Wo dieser Rat besondere Sorgfalt darauf verwandt hat, die durch die Reform zerstörte Zusammenschreibung von Verben wiederherzustellen, schreit der dudianische Esel unverändert: auseinander! Esel sind bekanntlich störrisch. Vielleicht sollte man sie in die allgemeine Schulpflicht einbeziehen, so dass ihnen der Unterschied zwischen «sitzenbleiben» und «sitzen bleiben» effektiv und damit auch für analoge Fälle ungleicher Bedeutung ein für alle Mal aufgeht.
Wir sind auch störrische esel; uns ist das mit dem «sitzen bleiben» auch noch nicht aufgegangen.
In ihrer jüngsten Erklärung nun fordert die Akademie, die Politik solle dem Rat eine «finanziell und institutionell abgesicherte Arbeitsebene» verschaffen. […] Zur Begründung der Forderung nach Geld und nach einem lexikographischen Apparat wird auf die Wörterliste verwiesen, die seit kurzem vorliegt […]. Nachfragen ergeben, dass die als grosses Desiderat empfundene Wörterliste gar nicht vom Rat erstellt wurde, sondern von den alten Reformkräften: dem Institut für Deutsche Sprache in Mannheim sowie zwei Wörterbuchverlagen. Noch immer arbeiten im Garten der Orthographie Böcke als Gärtner.
Ebenso im garten des journalismus.
In der Schweiz haben sich zuletzt vor allem der Lehrerdachverband (LCH) und der Sprachkreis Deutsch in Opposition zum Rechtschreib-Rat und seiner Arbeit begeben. […] Hans Ulrich Stöckling, Präsident der schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz, widerspricht dem Verlangen des LCH, besser die gesamte Reform noch einmal gründlich aufzurollen, statt an ihr herumzudoktern. […] Anders als der LCH hält Stöckling die Empfehlungen des Rates für akzeptabel. Er stelle sich vor, sagte er gegenüber der NZZ, die Schreibungen als Alternativen zuzulassen und am Ende einer Übergangsfrist über ihre Verbindlichkeit zu entscheiden.
Abweichend vom derzeitigen Reformstand soll der «erweiterte Infinitiv mit «zu» wie früher ein obligatorisches Komma verlangen. Zwischen zwei mit «und» verbundenen Hauptsätzen darf wieder, aber muss nicht notwendig ein Komma stehen. Generell sollten die Schüler zu einer leserfreundlichen Zeichensetzung angehalten werden, und damit kämen im Grunde alle alten Kommaregeln als «Kann-Bestimmungen» wieder zu Geltung, erläuterte Hans Zehetmair […].
Und damit sind wir im grunde wieder gleich weit.
Bei seinem zweiten Treffen hat der an Überbesetzung leidende Rat für Rechtschreibung in Mannheim eine siebenköpfige Arbeitsgruppe eingesetzt […].
Auf deutscher Seite verzichteten stark angefeindete Reformer aus der alten Kommission darauf, sich erneut berufen zu lassen; hingegen sind die vorigen österreichischen und Schweizer Vertreter auch jetzt wieder dabei. Zu den neuen Gesichtern der Schweizer Abordnung gehört der Chefkorrektor der NZZ, Stephan Dové, der vom hiesigen Zeitungs- und Zeitschriftenverlegerverband nominiert worden war. […] Irreführend ist die Aussage der Präsidentin der deutschen Kultusministerkonferenz, die Weiterentwicklung der Schreibregeln geschehe «nunmehr in einem politikfernen Prozess». Wie seine Vorgängerin, die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung, steht auch der neue Rat in der Pflicht, für Änderungen am Regelwerk den Segen der Politik einzuholen.
Nach der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hat jetzt auch das deutsche PEN-Zentrum die ihm angebotene Mitgliedschaft im geplanten Rat für deutsche Rechtschreibung ausgeschlagen.
Zwei Plätze in dem von Reformbefürwortern dominierten Rat waren ihr angeboten worden, jedoch hat die Akademie schon im Vorfeld klargestellt, dass ein solches Gremium klein und möglichst nur mit Wissenschaftern und Schriftstellern, nicht jedoch auch mit Interessenvertretern (Verlegern, Lehrergewerkschaften u. a.) besetzt sein dürfe.
Es ist schon erstaunlich, was für Tiraden die Rechtschreibreform auf sich zieht. Als skrupellose «Mafia, die sich vor Jahren in irgendwelchen Hinterzimmern zusammengerottet hat, um mit der deutschen Sprache gründlich aufzuräumen», sahen sich die Betreiber der Reform vergangenen Montag in der «FAZ» beschimpft. Die politisch verantwortlichen Kultusminister seien Legastheniker und Ignoranten, die ihnen gehorchenden Schullehrer servile Feiglinge, schäumte Hans Magnus Enzensberger. Vielleicht muss man Schriftsteller sein, um über Misshandlungen des Sprachkörpers, wie sie die Reform verübt, derart die Contenance zu verlieren.
Vielleicht könnte man bei dieser gelegenheit erkennen, wer hier was verübt.
Für feste Begriffe wie Gelbe Karte oder Kleine Anfrage ist wieder die Grossschreibung erlaubt.
Wieder? Vor 1996 galt nur gelbe Karte.
Die Politik, die deutsche zumal, steckt in einer peinlichen Lage. An Fragen der Rechtschreibung im Grunde desinteressiert, versteht sie nicht, warum die Diskussion darüber nicht zur Ruhe kommt. […] In Österreich herrschen weitgehend Indifferenz und Ruhe, in der Schweiz ist hie und da ein obstinates Grummeln vernehmlich. Kein Vergleich mit Deutschland. Dort besitzt der Protest kampagnenartige Züge; Akademien, Professoren und namhafte Verbände wie der PEN erwachen gerade in jüngster Zeit zu frischer Opposition. […] Die deutsche Politik hat zwar begriffen, dass die Orthographie kein Thema für sie ist. Je länger der Streit währt, desto mehr fühlt sie sich von der Materie überfordert. Anstatt jedoch ganz die Finger davon zu lassen, wünscht sie sich mehr Autorität für die Reform.
An der bisherigen Diskussion über die Reformentwicklung war der PEN als Mitglied im Beirat zur deutschen Rechtschreibung zwar beteiligt, hat es aber versäumt oder nicht vermocht, in diesem Gremium die Interessen der Literaten wirksam zu artikulieren.
Ob der geballte Protest der jüngsten Zeit dazu geführt hat? Die Kultusministerkonferenz (KMK) in Bonn ist den Empfehlungen ihrer Amtschefs nicht gefolgt und hat den 4. Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung überraschenderweise nicht verabschiedet.
Am 1. August 2005 wird, sofern die Politik sich nicht besinnt, die Rechtschreibreform verbindlich […]. Derweil versucht die Reformkommission ihr Werk durch Herumdoktern am System über die Zeit zu retten — vermehrt aber dabei die Schar der Kritiker. […] Die Juristen verlangen die Kündigung der «Wiener Erklärung» von 1996 (was durchaus möglich wäre, denn sie ist kein völkerrechtlich bindender Vertrag) und eine Rückkehr zur alten Orthographie […].
Die Böcke wollen Gärtner werden: So muss muss man wohl die jetzt bekannt gewordenen Ambitionen der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung kommentieren. Wenn am 31. Juli 2005 die Übergangsfrist endet […], dann soll nicht nur das missratene und bereits stillschweigend modifizierte Reformwerk in Schulen und Amtsstuben endgültig verbindlich sein. Obendrein wünscht sich die Kommission grössere Machtfülle. […] Die Auflösung oder zumindest Neubesetzung dieses Gremiums tut not. Es hingegen durch Machtzuwachs zu adeln, wäre ein Witz.
Siehe stellungnahme.
[…] Herausgabe eines handlichen, schön gedruckten und fadengehefteten Bändchens, welches einen traurigen Befund im Titel trägt: «Deutsch. Eine Sprache wird beschädigt». […] Der Band ist entschieden einseitig und verzeichnet nicht ein einziges stichhaltiges Argument zugunsten der Reform. Unterhaltsam ist er übrigens auch, wie ja die Anhänger der herkömmlichen Orthographie im Reformstreit meist die begabteren Polemiker und besseren Schriftsteller auf ihrer Seite haben. […] Dass nur in einer Rückkehr zur alten Orthographie das Heil liege, ist für alle Beiträger des Buches unstrittig.
Es ist absehbar, dass die Akademie mit ihrem Kompromiss zwischen den Stühlen sitzt. […] Warum nicht gleich zurück zur alten Schreibung? Das war auch die Frage gestern. […] Die Frage sei, mit welchen Revisionen man «durchkommt».
Schlagzeilen in der deutschen Presse, die Reformkommission stelle mit dem Bericht ihr Werk nun selbst in Frage, sind von den Betroffenen umgehend dementiert worden. […] Bankrotterklärungen sind freilich von den Betreibern und Profiteuren der Reform nimmermehr zu erwarten, am allerwenigsten von der in Deutschland politisch verantwortlichen Kultusministerkonferenz. […] Werner Hauck, Leiter der Sprachdienste in der Bundeskanzlei in Bern und eines von drei Schweizer Mitgliedern in der Reformkommission, plädiert denn auch dafür, «aus der Kriegsatmosphäre» herauszutreten. Wo es die Sache fordere, werde es sicherlich zu Änderungen an der Reform kommen. Aber das «Bombardement» der Kritiker führe nur zu «Verkrampfungen» bei den Kultusministern, die dann womöglich erst recht «kein Jota» zurückweichen würden.
Nun plädiert die Deutsche Akademie für eine öffentlich geförderte Arbeitsstelle, die gleich viererlei leisten soll: Terminologiearbeit, Textredaktion, Sprachberatung und Sprachaufklärung. Es würde von Klugheit zeugen, erwiesen sich die entsprechenden staatlichen Instanzen hier einmal als grosszügige Financiers. Auch wenn es, anders als bei der milliardenschweren Rechtschreibreform, für Vater Staat diesmal nichts zu lenken gäbe.
Ickler […] ist öffentlich vor allem mit pointierten Fundamentalverrissen der jüngsten deutschen Rechtschreibreform hervorgetreten. […] Hier hat die Preisvergabe eine hübsche polemische Note. Dass sie zugleich tröstlichen Beistand leisten will, verrät Paragraph 3 der Satzung: Auch gilt es, dem Preisträger bei seinen berechtigten Bestrebungen das Gefühl der Vereinsamung und der Verlassenheit zu nehmen.
Soweit passt alles zusammen. Und doch ist es entweder Demagogie oder Unkenntnis der Historie, die Unterordnung der Schrift unter phonetische Prinzipien als nationalsozialistisch zu brandmarken zumal wenn dies mit der Suggestion einhergeht, dass jeder, der dem phonetischen Primat huldige, braunes Gedankengut pflege.
Da besinnt sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nach den kulturpolitisch verwickelten Einlassungen der letzten Jahre auf ein innerästhetisches Thema, und das Publikum besucht ihre Frühjahrstagung so zahlreich wie lange nicht mehr. Sollte sie also künftig davon ablassen, über die (aus ihrer Sicht verfehlte) Rechtschreibreform oder die Anglizismenflut zu debattieren, und sich nur noch mit Veranstaltungen wie dieser jüngsten, betitelt «Musik zur Sprache gebracht Sprache zur Musik gebracht», zu Wort melden? Die Frage ist müssig, denn die Akademie will in der Rechtschreibe- und Sprachpolitik mit eigenen Konzepten aktiv bleiben […].
«Rechtschreibreform und Nationalsozialismus» heisst das Buch, […] dessen suggestiver Titel sich vorzüglich dazu eignet, Aufmerksamkeit und böses Blut zu stiften. Als 1998 das Bundesverfassungsgericht seine Anhörung zur Rechtschreibreform durchführte, hatte Christian Meier auf die Reformversuche des nationalsozialistischen Erziehungsministers Rust in den vierziger Jahren hingewiesen und pointiert, das gegenwärtige Bestreben, eine bei der Bevölkerung unerwünschte Orthographie staatlich durchzusetzen, erinnere doch sehr an die Ambitionen der Nazis ein Vergleich, für den er sich entschuldigen musste und den er jetzt in Darmstadt auch nur wiederholte, um ihn zu verneinen. Mit dem nun vorliegenden Buch freilich bleibt die Suggestion in der Welt. […] Hoch ging es her in Darmstadt, es war die lebhafteste Veranstaltung der Akademie seit langem.
Ein paar nette Antworten von Leuten, die das Diktat als unterhaltsamen Jokus begrüssten, hat Jens Jessen, der Feuilletonchef der «Zeit», auch bekommen: Viele Rentner hätten gern mitgetan, ein Ingenieur ebenfalls, und eine Sekretärin […] erklärte ihre Bereitschaft unter der Bedingung, im Gegenzug dann dem Herrn Jessen ein Diktat nach den neuen Regeln aufgeben zu dürfen. Es fehlte also nicht am Schulbankmasochismus, es waren nur die falschen Leute, die ihn zeigten: keine Schriftsteller. Oder jedenfalls keine legitimierten. Nur solche wie André Paris, der Literaturpreisträger ohne Verlag.
Gering mag man veranschlagen, dass über die «FAZ» eine Sturzflut zustimmender Leserbriefe hereinbrach (Leser, die die «Verantwortungslosigkeit» des Blattes rügten, gab es auch, aber sehr wenige) — damit war immerhin zu rechnen. Schwerer dürfte wiegen, dass der schon erloschene Disput über den Nutzen der alten und die Nachteile der neuen Orthographie frisch auflodert, weshalb man in deutschen Zeitungen nach eineinviertel Jahren Absenz jetzt wieder inhaltliche — sprachwissenschaftliche — Auseinandersetzungen mit der Reform lesen kann.
Enthusiasmierte Anrufer liessen die Telefone in der Redaktion nicht mehr stillstehen, berichtet Literaturchef Thomas Steinfeld: «Die Leute sind wie befreit.» Auf die Frage, ob die Rückkehr zur herkömmlichen Orthographie konsequent vollzogen werde, antwortet er: «Einige Modifikationen werden wir uns vorbehalten — aber das tun Sie bei der NZZ ja auch.»
Ihr Kampf gegen Rechtschreibreformer hat Tradition; 1958 gelang die Abwendung der radikalen Kleinschreibung.
Mit der Leserfreundlichkeit haben auch die Reformgegner stets argumentiert, anders als die Reformbetreiber, deren zentraler Impuls darauf zielt, das Schreibenlernen zu erleichtern. Der Dissens ist grundsätzlich und scheint unüberbrückbar.
Es ist das schicksal jeder rechtschreibreform, wegen angeblich schlechterer lesbarkeit abgelehnt zu werden — das war schon bei der abschaffung der fraktur so, die natürlich viel besser lesbar war. Das schreibenlernen ist uns ein anliegen, aber nur einfache gemüter denken monokausal.
Die Rechtschreibreform bleibt für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine offene Wunde. Auch ohne auf dem Programm zu stehen, beherrscht sie die Pressekonferenzen. […] es mehren sich die Anflüge von Resignation.
Der Darmstädter «Vorschlag zur Neuregelung der Orthographie» ist kein grosser Wurf, kein neues Regelwerk - aber ein solches darf das Papier auch nicht formulieren, wenn es die reformierte amtliche Vorgabe prinzipiell akzeptiert. Statt dessen atmet das Konzept den Geist des pragmatischen Minimalismus: Besinnung auf den eingewurzelten Schreibusus; Liberalität der Verwendung alternativer Schreibweisen; Skepsis gegen das Unternehmen, für alle sprachlichen Feinheiten Regeln zu finden. […] Inmitten der zwischen Reformgegnern und Befürwortern hoffnungslos verhärteten Fronten sitzt die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung mit ihrem Papier wie zwischen allen Stühlen. Ihr «Vorschlag zur Neuregelung der Orthographie» ist eine Friedensofferte. Absehbar ist indessen, dass die Fundamentalisten hüben wie drüben dem (An-)Gebot der Stunde nicht willfahren werden.
Ohne weitere Auflagen, ja geradezu triumphal ist die Politik der Rechtschreibereformer aus dem Karlsruher Verfahren hervorgegangen. Die Verfassungsbeschwerde eines Lübecker Elternpaares, das seine Kinder nicht nach den neuen Regeln unterrichten lassen wollte, wurde als unbegründet zurückgewiesen. Grundrechte seien nicht verletzt, erklärte das höchste deutsche Gericht bei seiner Urteilsverkündung am gestrigen Dienstag. […] Dank Karlsruhe herrscht nun Rechtssicherheit: Das Urteil des BVG bindet jedes andere deutsche Gericht; die noch ausstehenden Verfahren verlaufen daher in vorgezeichneten Bahnen.
«Schlechte Verlierer.» Der Vorwurf, mit dem sich die deutsche Fussballnationalmannschaft nach ihrem Ausscheiden bei der WM 98 und anschliessenden kläglichen Schuldzuweisungen an den Schiedsrichter konfrontiert sah, trifft nun auch die Gegner der Rechtschreibreform, die ihre Verfassungsbeschwerde eine Woche vor der Karlsruher Urteilsverkündung zurückgezogen haben. Bezeichnend ist, dass der Prozessbevollmächtigte Rolf Gröschner sein Mandat niedergelegt hat. Dem in Jena lehrenden Staatsrechtler ist offenbar die Taktik zuwider, mit der seine Kollegen und Mandanten einem für sie nachteiligen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts (BVG) ausweichen wollten.
Dementsprechend gibt es ein einhelliges Bekenntnis zum 1. August 1998 als offiziellem Tag der Reformeinführung und dazu, die alte Beschlusslage von 1996 nicht anzutasten. Man dankt der Reformkommission für ihre Arbeit in anerkennenden Worten, düpiert sie jedoch de facto, indem man ihr anempfiehlt, sie solle ihren Änderungsbericht nicht als Vorschlag und Neufassung, sondern einfach als «Kommentar» zum Reformwerk verkaufen – und in eigener Verantwortung veröffentlichen.
Dass die Kommission keine der neuen Regeln vollständig zurücknimmt, sondern sie nur lockert mit der Tendenz, neben den neuen auch wieder alte Schreibungen («Varianten») zu erlauben, besiegelt nach dem Urteil der Reformgegner das Desaster. […] Damit wir bei […] frisch gebackenen Ehepaaren an Backöfen denken, muss mehr über uns hereinbrechen als eine Rechtschreibereform Mannheimer Zuschnitts.
Die Argumente sind ausgetauscht, die Gemüter verhärtet, die Gerichte haben das Wort: Wie in Deutschland über die Rechtschreibereform gestritten wird, spottet nüchterner Beschreibung. […] Längst trägt der Reformstreit die Züge eines Glaubens-, ja Daseinskampfes. […] «Beneidenswert» nennt ein Ministerialrat im niedersächsischen Kultusministerium die Unaufgeregtheit, mit der in der Schweiz die orthographischen Neuerungen debattiert werden. […] Wenn […] die Reformgegner fordern, jede Neuregelung der Orthographie müsse sich innerhalb der «herkömmlichen Bahnen» bewegen, beanspruchen die Reformer, genau dies zu tun. […] Ihre Devise «Die Grundregeln stärken, den Wildwuchs der Ausnahmen beschneiden» wollen sie als ein Zurück zu den Ursprüngen verstanden wissen. […] So möchten, kurios genug, am Ende selbst Reformer als Traditionalisten dastehen.
Mögliche Folgen für die Partnerländer, wie sie ein einseitiger Reformabbruch haben könnte, kümmern in Deutschland fast niemanden. Die (mittlerweile) in ihrer Mehrheit reformkritische deutsche Presse erweckt den Eindruck, auch Österreich und die Schweiz würden der neuen Rechtschreibung, so sie denn scheiterte, keine Träne nachweinen. Man zitiert mit Vorliebe die Stimmen der Reformgegner bei den Nachbarn, ignoriert aber, um für die Schweiz ein Beispiel zu geben, reformbeharrende Haltungen wie die von Vizekanzler Achille Casanova oder von Christian Schmid, dem Kulturbeauftragten der EDK (NZZ 31.7.97).
Es bringe Deutschland nicht voran, wenn das Wort «Schiffahrt» künftig mit drei statt zwei «f» geschrieben werde, hat Theo Waigel am traditionellen politischen Aschermittwoch seiner Partei in Passau erklärt.
Schüler, Lehrer und Verwaltungsbedienstete sind von den orthographischen Neuerungen am stärksten betroffen. Zum geballten Massenprotest haben sie sich bisher nicht aufraffen können. Den besorgen in Bayern und Schleswig-Holstein die Initiativen «Wir gegen die Rechtschreibreform».
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