Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Die ortografie zu lernen wäre möglich
Zu Roland Kaehlbrandt: «Deutsch lernen ist möglich», Süddeutsche Zeitung,
„Es gibt wohl nur hie und da einen orthographiſchen Sonderling, der für die großen Anſtäbe der Subſtantive noch eine Lanze zu brechen wagt.“ Das stellte Heinrich Erdmann („Zur orthographischen Frage“) 1874 fest. Ja, hie und da gibt es noch einen, zum beispiel Roland Kaehlbrandt. Für ihn ist die substantivgrossschreibung „ausgesprochen leserfreundlich. Denn man erkennt im Satz sogleich wichtige Ankerpunkte des Verstehens.“ Die sprachwissenschafter von J. R. Sattler über Adelung und Duden bis zu den leuten von 1996 hat das nie wirklich überzeugt. Sie gaben dem usus der drucker nach, der bibeldrucker und heute der Bild-zeitung.
Wie soll denn das mit den ankerpunkten funktionieren, wenn jedes dritte wort (in Kaehlbrandts artikel 35 %; von den längeren wörtern jedes zweite) einer sein soll? Jedes dritte bzw. jedes zweite! Dagegen wird in der allgemein üblichen eigennamengrossschreibung jedes zehnte wort (12 %) grossgeschrieben, was eine signalfunktion, wenn sie denn existiert, wesentlich plausibler erscheinen lässt. Es gibt mehrere wissenschaftliche untersuchungen dazu, eine von 1932: „Die Versuchsergebnisse zeigen einige Male Gleichheit der Leistungen, in der Mehrzahl der Fälle aber eine wesentliche Überlegenheit der Kleinschreibung über die Großschreibung.“ Die substantivgrossschreibung bringt nichts; das wäre auch so, wenn sie von allen beherrscht würde.
Sind die deutsche ortografie im allgemeinen und die substantivgrossschreibung im besonderen prinzipiell unlernbar? Nein, natürlich nicht. Auch die infinitesimalrechnung ist lernbar, aber wenn sie voraussetzung für den kauf eines brötchens wäre, würden die allermeisten menschen verhungern. Wenn eine permanente wortartenbestimmung eine voraussetzung für das sprechen wäre, hätten die menschen nie zu sprechen begonnen. Wie kommt es, dass die meisten menschen, auch 3-jährige kinder, korrekt sprechen, aber nur eine minderheit korrekt schreiben kann? („Spiegel“ 1995: „69 Prozent der Deutschen schreiben Rhythmus falsch.“) Die verbreitete vermutung, dass lesen schwieriger sei als hören, ist falsch, wie E. Leiss nachgewiesen hat. Der unterschied: Die sprachentwicklung ist ein natürlicher prozess (zu dem auch umstrittene bestrebungen gehören), die schrift und die schreibung sind künstlich. Das verbietet eine vermischung beider fänomene, wie sie in vielen debatten (und hier in der überschrift „Deutsch lernen ist möglich“) zum ausdruck kommt. Sprachliche regeln funktionieren auch, wenn sie uns nicht bewusst sind. Irgendwie lernen alle, dass es „singen, sang, gesungen“ heisst und nicht „singen, singte, gesingt“. Ob man das auch in 200 jahren noch so sagt, wissen wir nicht. Dagegen ist zu befürchten, dass die deutsche schulrechtschreibung auch in 200 jahren noch substantivgrossschreibung und das unmögliche nebeneinander von f/v/ph verlangt, weil änderungen oft an der politik scheitern. Kaehlbrandts loblied auf die rechtschreibregeln ist also diskutabel. Manche (nicht wir, von wegen vermischung von sprache und schreibung) sehen es anders. Th. Ickler: „In Wirklichkeit leitet kein Schreibkundiger die korrekte Schreibung von Regeln ab.“ A. Smoltczyk: „Niemand schreibt nach Regeln. Regeln sind die Theorie zu den Tatsachen der Orthografie.“ Wenn es so wäre, würden abgeschaffte regeln (z. b. trennregeln für st, ck, 3 konsonanten oder substantivgrossschreibung) von niemandem vermisst. Wie auch immer – künstliche regeln wie die für die wirtschaft, den strassenverkehr, die rechtschreibung müssen begründet und praktikabel sein. Die buchstabenschrift bietet dafür die besten voraussetzungen. Sie wird durch unmögliche regeln und viele ausnahmen an ihrem funktionieren gehindert.
Unsere diagnose: Das ist der eigentliche grund für die „aktuelle Rechtschreib-Misere“. (Übrigens bedeutet aktuell nicht gegenwärtig, aber man versteht es trotzdem, ebenso wie das anektotische beispiel mit den fliegen.) Bedeutet die misere, dass die schriftliche kommunikation in deutsch oder in einer anderen sprache nicht mehr funktioniert? Davon kann keine rede sein; es wird so viel geschrieben und gelesen wie noch nie. Sprache und schreibung müssen ihren zweck erfüllen und nicht den formalen vorstellungen alter leute entsprechen.
Dieser text ist in eigennamengrossschreibung (früher gemässigte kleinschreibung genannt) und (wie in der Schweiz üblich) ohne ß verfasst. Vielleicht wird er von der Süddeutschen Zeitung in die schulrechtschreibung umgesetzt. Das würden die fachleute ohne grosses nachdenken schaffen. Sie würden aber mit der rekonstruktion den beweis erbringen, dass die substantivgrossschreibung für das verständnis nicht nötig ist.
Rolf Landolt, Bund für vereinfachte rechtschreibung, gegründet 1924
Über einen abdruck in unserer schreibweise würden wir uns freuen. Aber im gegensatz zu einigen leuten, die sprache und schreibung verwechseln, sind wir überzeugt, dass der text auch gemäss duden 28. aufl., duden 20. aufl., duden 1. aufl., in fraktur, steno, braille, kyrillischer schrift usw. lesbar ist.