Schrift kodifiziert sich selbst. Einen universellen graphischen Code gibt es auch deshalb nicht, weil die Schrift die Hauptkraft ihrer eigenen Perpetuierung ist. Ganz gleich, wie gut oder schlecht ein Schriftsystem ist, seine Sichtbarkeit suggeriert die Notwendigkeit seines So-seins. Das erklärt den Widerstand, auf den Schriftreformen gewöhnlich stoßen. Etablierte Schrifttraditionen sind konservativ.
Neben solchen Opponenten, denen die Reform nicht weit genug geht, weil sie z. B. nicht die gemäßigte Kleinschreibung herbeiführt, und die bestimmte, durchaus diskussionswürdige Punkte des Programms kritisieren, lehnen andere jeden Eingriff in die Orthographie grundsätzlich ab.
Befürworter und Gegner einer Rechtschreibreform haben stets eigene Gütestandards und ihre eigenen Sachverständigen, die sie bestätigen.
Michael Rutschky, tagesspiegel.de,
Wie Sie sehen, interessieren mich die Gegner der Reform eigentlich mehr als die Reform selber.
Peter Wapnewski, Süddeutsche Zeitung,
Das eigentliche Ärgernis aber ist ja nicht das schwächliche Reformwerk, sondern die absurde und gelegentlich an Hysterie grenzende Argumentation der von ihm in ein hektisch um sich schlagendes Leben gerufenen Gegnerschaft. So daß ein den Vorschlägen entgegengebrachtes Wohlwollen sich weniger deren Vernunft als vielmehr der Unvernunft der Gegner verdankt und einer soliden Abneigung gegen den Mißton ihres schrillen, fundamentalistisch sich gebärdenden Eiferertums.
Vergessen wollen wir aber nicht, welche Mißtöne immer unsere Anstrengungen begleitet haben. In einer Mail las ich vor ein paar Jahren, Juden und Freimaurer stünden hinter der Rechtschreibreform, und ihr Ziel sei die Zerstörung der deutschen Volksseele. Ganz unbegründet war es also nicht, als Innenminister Kniola (Düsseldorf) 1998 den Widerstand gegen die Rechtschreibreform als rechtsextremistische Aktivität einstufte. Das sollte heute niemand vergessen.
Es fällt auf, dass Kritik an der Reform vielfach von Personen kommt, die in Bezug auf die bisherigen orthographischen Regelungen keinerlei kritische Aufmerksamkeit erkennen ließen. Erst die angekündigten Neuschreibungen scheinen bei ihnen diese Art von Sensibilität geweckt zu haben, wobei aber seltsamerweise wiederum die alten Schreibungen aus ihrer Kritik ausgespart bleiben.
Keine diskussion
Wer keine änderung will, wer am status quo festhalten will, will auch nicht diskutieren. Sich auf diskussionen einzulassen, könnte den eindruck erwecken, man halte eine reform für eine ernst zu nehmende option. Im sport kennt man diese taktik als betonfussball.
Alfred Schön, Saarbrücker Zeitung,
Wer heute lautstark beklagt, eine öffentliche Debatte über das Vorhaben sei ausgeblieben, muß sich an die eigene Brust klopfen. Wem war die Rechtschreib-Reform wichtig genug, um darüber eine Auseinandersetzung zu führen?
War es Zufall, dass keiner der jetzt so empörten Honoratioren sich während der langen, keinesfalls geheimen Entstehungszeit der Reform sich dafür interessierte, sich einmischte und rechtzeitig auf Ungereimtheiten hinwies? War das nicht ein angeekeltes Wegschauen in der stillen Hoffnung, daraus würde nichts werden?
Ko., Neue Zürcher Zeitung,
Der Vorwurf, ihr Widerstand komme verspätet, konnte die aufbegehrenden Parlamentarier bisher nicht schrecken. Man sei doch immer davon ausgegangen, dass die Kultusminister keine Reform zustande brächten, entschuldigen sie sich.
Möglich wurde das, weil nach Jahrzehnten des reformerischen Sandkastenspiels niemand mehr an den Ernstfall geglaubt hat. «Wir konnten doch nicht ahnen, daß die damit wirklich Ernst machen», sagte 1997 ein berühmter Schriftsteller auf meine Frage, warum die Autoren sich nicht beizeiten gewehrt haben.
[…] im ersten Halbjahr 1995, als die amtliche Vorlage schon da war, aber der formelle Beschluß noch ausstand, war es so gut wie unmöglich, kritisches Interesse für das neue Regelwerk zu wecken. Auch bei Marcel Reich-Ranicki ist es mir damals nicht gelungen, er nahm den drohenden Unfug nicht ernst. "Das kommt sowieso nicht!" beruhigte er mich am Telefon.
Der Weilheimer Studienrat Friedrich Denk, der den Widerstand gegen die neuen Regeln hauptsächlich organisiert hatte, erwartet, daß die Bevölkerung sich den neuen Schreibweisen nicht unterwerfen wird.
Auch jahrzehnte nach der neuregelung bestehen manche leute darauf, zu schreiben, «wie sie es in der schule gelernt haben». Zunehmend ist das aber mit einer selbsttäuschung verbunden.