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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

stichwort → unterscheidungs­schreibung
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unterscheidungsschreibung

Definion

Unterschiedliche schreibung von gleich lautenden wörtern (homofonen) zwecks unter­scheidung der bedeutung (semantisches prinzip).

Begründung

Zu erwänen iſt ſchließlich noch, daſs die Schrift ihren Überfluſs an Zeichen auch im Intereſſe begrifflicher Unter­ſcheidun­gen verwendet. Dahin gehört es, wenn ſie lautlich gleiche Wörter will­kürlich ver­ſchieden ſchreibt und die eine Schreibung dieſer Bedeutung, die andre jener zuweiſt. Vgl. Tau und Thau, Ton und Thon. Zuweilen geht ſie darin ſelbſt ſo weit, ein und daſselbe Wort, wenn es im Laufe der Zeit ver­ſchiedene Bedeutungen angenommen hat, je nach ſeiner Be­deutung ver­ſchieden zu ſchreiben. Das geſchieht z. B. bei wider und wieder, bei Stadt und Statt. Als ir­gendwie kon­ſequent durch­gefürter Grundſatz erſcheint aber die Unter­ſchei­dung gleich­lautender Wörter weder in der letztern noch in der erſtern Be­ziehung.

Beispiele

regeln
wohlbekannt / wohl bekannt, morgen / Morgen (fundsachen), die drei / die Drei (fund­sachen)
einzel­festlegungen
malen / mahlen, Dohle / Dole, wider / wieder, Seite / Saite, Stiel / Stil, Lärche / Lerche, greulich / gräulich, das / dass
über­tragene bedeutung, feste aus­drücke
sitzenbleiben / sitzen bleiben, grossschreiben / gross schreiben, frischgebacken / frisch gebacken, Schwarze Kunst, Schwarzes Brett

Pro

Tese: Unterscheidungs­schreibung erleichtert das lesen durch auf­lösung von mehr­deutigkeit (ambiguität) und er­möglicht dem schreiber eine grössere ausdrucks­vielfalt.

, Voll­ständigere und Neu­erläuterte deutsche Sprachkunst, , s. 77

Eine andere Regel der Recht­ſchreibung ent­ſpringt aus dem Unter­ſchiede der Wörter in ihren Be­deutungen. Denn da einer Sprache nichts nach­theiliger iſt, als die Zwey­deutigkeit der Wörter: ſo iſt auch nichts billiger, als daß man Wörter von zweyer­ley Sinne, doch ähnlichem Klange, wenigſtens in der Schrift, ſo viel als möglich iſt, unter­ſcheide. Der­geſtalt fallen ſie im Leſen, ſowohl Ein­heimiſchen als Aus­ländern, ganz anders in die Augen, und warnen vor dem Mis­ver­ſtande, der bey einer­ley Buch­ſtaben leicht möglich wäre.

Facts,

Schliesslich liegt hier eine fast einmali­ge Stärke der deutschen Sprache: Es ist ein Unter­schied, ob man «blaumacht» oder ob man ein Osterei «blau macht», es ist etwas anderes, wenn man «sitzen bleibt» oder in der Schule «sit­zenbleibt».

, Frank­furter All­gemeine Zei­tung, , s. 1

[…] daß die angebliche Schreib­verein­fachung un­zählige Nuancen und Präzi­sierungen der deutschen Sprache zu beseitigen droht und das Verstehen von Texten erschwert, wenn nicht un­möglich macht […]

, Basler Zeitung,

Anders als der Duden hält die baz auch an der Unter­scheidung zwischen wört­licher und über­tragener Bedeutung von Begriffen fest. Denn es ist ein Unter­schied, ob man zum Beispiel in der Schule «sit­zengeblieben» oder auf ei­nem Stuhl «sitzen geblieben» ist; ob «die Besuche­rinnen und Besucher stehen geblieben sind» (= weiterhin stehen) oder ob sie «stehenge­blieben sind» (= einen Halt machen).

, Wahrig, die deut­sche Recht­schrei­bung, vorwort,

Mehr semantische Differenzierungs­mög­lich­keiten […] erhöhen […] die Aus­drucks­vielfalt.

Kontra

Tese: Gemäss dem durch die buchstaben­schrift vorgegebenen schichten­modell ist der trans­port von bedeutung allein aufgabe der sprache, nicht der schrift. Sie ist erschwert das schreiben, ohne beim lesen einen nutzen zu bringen. (Stand­punkt des Bundes für ver­einfachte recht­schrei­bung.)

, Die Ortho­graphie in den Schulen Deutsch­lands, , s. 48f.

[…] auch die preußiſche Unter­richts-Ver­waltung hat nicht ohne triftige Gründe […] die Unter­ſcheidung von Wa­gen und Waa­gen zugelaſſen; aber ohne ſolche Gründe iſt das Streben, gleich­lautende Wörter ver­ſchieden zu ſchreiben, nicht zu emp­fehlen. Freier denkende Männer haben ſchon in alter Zeit dieſe Anſicht vertreten. Sie ver­warfen den Unter­ſchied von ſeyn esse und ſein suus, oder mein meus und meyne puta, da man aus dem Zu­ſammen­hang der Rede gleich einſehen könne, wenn ein Wort einen andern Begriff andeute, als dasjenige, mit dem es etwan einerlei in der Ausſprache und dem Schreiben ſei. Beſonders war es Friſch, der ſolche Unter­ſcheidungen für albern, unnötig und pedantiſch er­klärte […]. Aber auch Adelung ſpricht ſich da­gegen aus […]. […] der Zuſam­men­hang allein enthält den Sinn. Die Un­möglich­keit, alle ver­ſchiedenen Be­deutungen, die ein Wort haben kann, durch be­ſondere Zeichen zu beſtimmen, hat Friſch ſchon betont und ſie leuchtet dem Blödeſten ein; was kann es from­men, hier und da mit ganz un­zuläng­lichen Mitteln kleine Anſätze zu einer Begriffs­ſchrift zu machen. Wir er­ſchwe­ren dadurch nur das Erlernen der Ortho­graphie.

Vom Standpunkt der Theorie aus ſind na­türlich jene Dop­pelſchrei­bun­gen gleichlau­tender Wörter ver­werflich. Denn wie kann man von der Schrift ver­langen, daſs ſie genauer ſei als die Spra­che, daſs ſie unterſcheide, was die Sprache nicht unterſcheidet! Von prak­tiſchem Nutzen würden ſie ſein, wenn unſre Sprache ſo reich an ſolchen Ho­monymen, gleich­lautenden Wörtern, wäre, daſs leicht Miſs­verſtändniſſe ein­treten könnten. Das iſt aber keines­wegs der Fall. Und wenn man die oft Heiter­keit erregenden, mit einem Aufwand von kaſuiſti­ſchem Scharf­ſinn ausge­tüftelten Beiſpiele betrachtet, in denen z. B. eine Ver­wechſelung von Ton und Thon möglich wäre, falls man ſie nicht ver­ſchieden ſchriebe; wenn ſich je­der fragt, ob er ſelbſt in ſeinem ganzen Leben bei all ſeiner Lektüre ſchon ein einziges mal auf einen Fall geſtoßen ſei, wo er die unter­bliebene Unter­ſcheidung z. B. in Thor (= Thür) und Thor (der Thörichte), oder in Strauß (Vogel), Strauß (Blumen­ſtrauß) und Strauß (Kampf) als einen zu Miſs­verſtändniſſen fürenden Mangel emp­funden hätte wird man one Zweifel zu der Über­zeugung gelangen, daſs jene, überdies gar nicht konſequent durch­gefürte, nach reiner Willkür hier wol, dort nicht angewende­ten Doppel­ſchreibungen eine ganz nutz­loſe Er­ſchwerung unſerer Recht­ſchreibung ſind. Sie erſcheinen nur harmloſer und daher weniger als Objekt der Bekämpfung, weil ſie nicht eben häufig ſind.

Eine zwecklose Erschwerung des Schrift­ge­brauchs ist es, gleich­lautende Wör­ter ver­schiedener Be­deutung durch eine ver­schie­dene Schreibung zu unter­scheiden, da ja schon der Zusammen­hang im Satze jedes Miß­verständnis verhütet.

Dagegen gewährt die Unter­ſcheidung gleich­lautender Wörter ſo geringe Vor­teile, daß die­ſelben von den daraus er­wachſen­den Nach­teilen bei weitem über­wogen werden. Nichts hat die Ent­wickelung unſerer Ortho­graphie zu Ein­fachheit und Konſequenz ſo ſehr geſtört als dieſes Unter­ſcheidungs­ſtreben.

Alle Sprachen ha­ben das an ſich, daß man oft nicht den Sin aus ein­zelnen Wörtern, ſondern dem ganzen Zuſam­men­hange auf­greifen mus.

, ,

Die geradezu zwanghafte Vermeidung von Homonymen, die ja auch im Deutschen grassiert (Moor, Mohr, malen, mahlen, Leib, Laib, Waise, Weise, weise) ist völlig überflüssig, da der Kontext die Wörter unterscheidet. Die Sprache funktioniert ja in ihrer primären, mündlichen Form, seit Jahrtausenden vorzüglich, auch mit Homonymen!

  1. Wie werden weise Reden / Weise reden und das / dass in der ge­spro­chenen sprache unter­schieden? Gross­buchstaben und doppel-ss hört man nicht. Hier kommt hin und wieder das argument, lesen sei schwieriger als hören und deshalb auf zusätzliche signale angewiesen. Das ist falsch, wie Leiss nach­gewiesen hat.
  2. Wo die unterscheidungs­schreibung nicht existiert, wird sie nicht vermisst: Gericht (engl. court / dish), Anzeige (advertise­ment / advice / notice / display / complaint), Kiefer (pinetree / jawbone), Bedeutung (meaning / importance / significance / acceptation / consequence / bearing), Tor (der/das, früher beides Thor), sein (früher sein / seyn), Ton (früher Ton, klang / Thon, erde).
  3. Wo sie existiert, wird sie primär als schreib- und lern­schwierigkeit wahr­genommen. Ein grund dafür ist das psychologische fänomen der ähnlichkeits­hemmung (de.wikipedia.org/wiki/Ranschburg-Phänomen). Lär­che/Lerche kann man sich kaum ohne esels­brücke merken. Das gilt auch für die komma­setzung.
  4. Sie wird inkonsequent angewandt und funktioniert un­zureichend (z. b. schwarzes Schaf nur so; 2 mögliche schreib­weisen für 3 bedeutungen: gross schreiben / grossschreiben für für Sehschwache gross schreiben / Substantive grossschrei­ben / Teamarbeit grossschrei­ben).
  5. Sie wird oft ignoriert oder falsch ein­gesetzt. Beispiele: für Sie und Ihn und Die Drei von der Tankstelle wird sehr häufig irreführend geschrieben, aber immer richtig verstanden. (Fundsachen.)
  6. Die insgesamt mangel­hafte funktion wird nicht wahrgenommen; vor allem laien halten die unterscheidungs­schreibung für un­entbehrlich.

, Süd­deutsche Zeitung,

Jean-Marie Zemb (Paris) wertet Dif­fe­renzie­rungen à la frei spre­chen / freispre­chen als Zeugnisse ”einer zur Ge­wohn­heit ge­wordenen Rationali­tät des Schrei­bens, das auf Bedeutungs­unterschiede Rücksicht nimmt”. Das ist schön gesagt und ehren­voll für die Schreiben­den. An­derer­seits herrscht am Collège de France, an dem Zemb lehrt, möglicher­weise ein höherer Alltag als hier, wo man selbst unter den be­dach­testen Schrei­bern öfter als eigentlich schicklich die Frage hören kann: ”Du, sag mal, schreibt man übel­nehmen nun zusammen oder nicht?” Daraus läßt sich schließen, daß ziemlich viele weder die be­treffenden Regeln kennen noch sie für wichtig genug halten, um eine gründlichere Be­schäftigung mit ihnen in Betracht zu ziehen. Sie akzeptieren gemeinhin jeden der zwei möglichen Tips und kämen nie in Gefahr, Sätze wie ”Hillary hat Bill nichts übel genommen” in irgend­einer Weise miß­zuverstehen.

verweise

Stellungnahme zu: Andreotti, Rechtschreib­reform – eine ernüchternde Bilanz

fundsachen: ambiguität

fundsachen: disambiguierung dank komma


Reformen

Bei jeder änderung der schreibung gibt es zwangs­läufig einen bereich, in dem grafische bedeutungs­differenzierungen wegfallen, wofür in jeder diskussion sofort bei­spiele präsentiert werden. Der drohende verlust von unter­scheidungs­schreibungen spielt eine grosse rolle und führt zu einer über­bewertung dieser funktion der ortografie.

Da reformen oft nicht eine aufhebung, sondern eine verschiebung von ab­grenzungen bedeu­ten, können sie neue bedeutungs­differenzie­run­gen schaffen. Inkonsequenter­weise ist die aussicht auf eine neue unterscheidungs­schrei­bungen nicht attraktiv. Die psychologische erklärung dafür ist die verlust-aversion (Frankfurter All­gemeine Zeitung, 2. 6. 2001). In einem argumen­tativen salto können die reformgegner sogar einem «Schleier der Uneindeutigkeit» etwas abgewinnen (Süddeutsche Zeitung, 30. 1. 1999).

Substantivgrossschreibung

Die eigennamengrossschreibung aus der sicht des lesers.

Reform von 1996

Unnötige unterscheidungs­schreibungen wur­den bewusst eliminiert. Das wurde 2006 teilweise rückgängig gemacht, aber z. t. nicht durch wie­der­herstellung der zwingenden unter­scheidungs­schreibung, sondern durch um­deutung in varianten. (Auch in Icklers wörterbuch.)

Neue unter­scheidungs­schreibungen: Stillleben, Betttuch/Bettuch.

„Vor allem die mit der Recht­schreibe­reform voll­zogene Abschaffung der so­genannten Unter­scheidungs­schreibun­gen […] führt", wie der Präsident des Verbandes, der Kölner Völker­rechtler Hartmut Schieder­mair, in Bonn erklärte, „zu einer unerträg­lichen Verkürzung der sprachlichen Ausdrucks­möglichkeiten."

, Bildung Schweiz,

Noch nicht einmal die Abschaffung von Bedeu­tungs­tüfteleien wie «auf dem Trockenen sitzen» (nicht nass haben un­ter der Hose) und «auf dem tro­ckenen sitzen» (kein Geld haben) dürfte die deutsch­schreibende Mensch­heit wirk­lich weiter­gebracht haben, da sol­chen Sin­nen­taumel wohl schon vorher kein arbeitender Zeit­genosse beachte­te.