Zu erwänen iſt ſchließlich noch, daſs die Schrift ihren Überfluſs an Zeichen auch im Intereſſe begrifflicher Unterſcheidungen verwendet. Dahin gehört es, wenn ſie lautlich gleiche Wörter willkürlich verſchieden ſchreibt und die eine Schreibung dieſer Bedeutung, die andre jener zuweiſt. Vgl. Tau und Thau, Ton und Thon. Zuweilen geht ſie darin ſelbſt ſo weit, ein und daſselbe Wort, wenn es im Laufe der Zeit verſchiedene Bedeutungen angenommen hat, je nach ſeiner Bedeutung verſchieden zu ſchreiben. Das geſchieht z. B. bei wider und wieder, bei Stadt und Statt. Als irgendwie konſequent durchgefürter Grundſatz erſcheint aber die Unterſcheidung gleichlautender Wörter weder in der letztern noch in der erſtern Beziehung.
Beispiele
regeln
wohlbekannt / wohl bekannt, morgen / Morgen (fundsachen), die drei / die Drei (fundsachen)
einzelfestlegungen
malen / mahlen, Dohle / Dole, wider / wieder, Seite / Saite, Stiel / Stil, Lärche / Lerche, greulich / gräulich, das / dass
Tese: Unterscheidungsschreibung erleichtert das lesen durch auflösung von mehrdeutigkeit (ambiguität) und ermöglicht dem schreiber eine grössere ausdrucksvielfalt.
Johann Christoph Gottsched, Vollständigere und Neuerläuterte deutsche Sprachkunst, , s. 77
Eine andere Regel der Rechtſchreibung entſpringt aus dem Unterſchiede der Wörter in ihren Bedeutungen. Denn da einer Sprache nichts nachtheiliger iſt, als die Zweydeutigkeit der Wörter: ſo iſt auch nichts billiger, als daß man Wörter von zweyerley Sinne, doch ähnlichem Klange, wenigſtens in der Schrift, ſo viel als möglich iſt, unterſcheide. Dergeſtalt fallen ſie im Leſen, ſowohl Einheimiſchen als Ausländern, ganz anders in die Augen, und warnen vor dem Misverſtande, der bey einerley Buchſtaben leicht möglich wäre.
Facts,
Schliesslich liegt hier eine fast einmalige Stärke der deutschen Sprache: Es ist ein Unterschied, ob man «blaumacht» oder ob man ein Osterei «blau macht», es ist etwas anderes, wenn man «sitzen bleibt» oder in der Schule «sitzenbleibt».
[…] daß die angebliche Schreibvereinfachung unzählige Nuancen und Präzisierungen der deutschen Sprache zu beseitigen droht und das Verstehen von Texten erschwert, wenn nicht unmöglich macht […]
Remo Leupin, Basler Zeitung,
Anders als der Duden hält die baz auch an der Unterscheidung zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung von Begriffen fest. Denn es ist ein Unterschied, ob man zum Beispiel in der Schule «sitzengeblieben» oder auf einem Stuhl «sitzen geblieben» ist; ob «die Besucherinnen und Besucher stehen geblieben sind» (= weiterhin stehen) oder ob sie «stehengeblieben sind» (= einen Halt machen).
Hans Zehetmair, Wahrig, die deutsche Rechtschreibung, vorwort,
Mehr semantische Differenzierungsmöglichkeiten […] erhöhen […] die Ausdrucksvielfalt.
Kontra
Tese: Gemäss dem durch die buchstabenschrift vorgegebenen schichtenmodell ist der transport von bedeutung allein aufgabe der sprache, nicht der schrift. Sie ist erschwert das schreiben, ohne beim lesen einen nutzen zu bringen. (Standpunkt des Bundes für vereinfachte rechtschreibung.)
[…] auch die preußiſche Unterrichts-Verwaltung hat nicht ohne triftige Gründe […] die Unterſcheidung von Wagen und Waagen zugelaſſen; aber ohne ſolche Gründe iſt das Streben, gleichlautende Wörter verſchieden zu ſchreiben, nicht zu empfehlen. Freier denkende Männer haben ſchon in alter Zeit dieſe Anſicht vertreten. Sie verwarfen den Unterſchied von ſeyn esse und ſein suus, oder mein meus und meyne puta, da man aus dem Zuſammenhang der Rede gleich einſehen könne, wenn ein Wort einen andern Begriff andeute, als dasjenige, mit dem es etwan einerlei in der Ausſprache und dem Schreiben ſei. Beſonders war es Friſch, der ſolche Unterſcheidungen für albern, unnötig und pedantiſch erklärte […]. Aber auch Adelung ſpricht ſich dagegen aus […]. […] der Zuſammenhang allein enthält den Sinn. Die Unmöglichkeit, alle verſchiedenen Bedeutungen, die ein Wort haben kann, durch beſondere Zeichen zu beſtimmen, hat Friſch ſchon betont und ſie leuchtet dem Blödeſten ein; was kann es frommen, hier und da mit ganz unzulänglichen Mitteln kleine Anſätze zu einer Begriffsſchrift zu machen. Wir erſchweren dadurch nur das Erlernen der Orthographie.
Vom Standpunkt der Theorie aus ſind natürlich jene Doppelſchreibungen gleichlautender Wörter verwerflich. Denn wie kann man von der Schrift verlangen, daſs ſie genauer ſei als die Sprache, daſs ſie unterſcheide, was die Sprache nicht unterſcheidet! Von praktiſchem Nutzen würden ſie ſein, wenn unſre Sprache ſo reich an ſolchen Homonymen, gleichlautenden Wörtern, wäre, daſs leicht Miſsverſtändniſſe eintreten könnten. Das iſt aber keineswegs der Fall. Und wenn man die oft Heiterkeit erregenden, mit einem Aufwand von kaſuiſtiſchem Scharfſinn ausgetüftelten Beiſpiele betrachtet, in denen z. B. eine Verwechſelung von Ton und Thon möglich wäre, falls man ſie nicht verſchieden ſchriebe; wenn ſich jeder fragt, ob er ſelbſt in ſeinem ganzen Leben bei all ſeiner Lektüre ſchon ein einziges mal auf einen Fall geſtoßen ſei, wo er die unterbliebene Unterſcheidung z. B. in Thor (= Thür) und Thor (der Thörichte), oder in Strauß (Vogel), Strauß (Blumenſtrauß) und Strauß (Kampf) als einen zu Miſsverſtändniſſen fürenden Mangel empfunden hätte wird man one Zweifel zu der Überzeugung gelangen, daſs jene, überdies gar nicht konſequent durchgefürte, nach reiner Willkür hier wol, dort nicht angewendeten Doppelſchreibungen eine ganz nutzloſe Erſchwerung unſerer Rechtſchreibung ſind. Sie erſcheinen nur harmloſer und daher weniger als Objekt der Bekämpfung, weil ſie nicht eben häufig ſind.
Eine zwecklose Erschwerung des Schriftgebrauchs ist es, gleichlautende Wörter verschiedener Bedeutung durch eine verschiedene Schreibung zu unterscheiden, da ja schon der Zusammenhang im Satze jedes Mißverständnis verhütet.
Dagegen gewährt die Unterſcheidung gleichlautender Wörter ſo geringe Vorteile, daß dieſelben von den daraus erwachſenden Nachteilen bei weitem überwogen werden. Nichts hat die Entwickelung unſerer Orthographie zu Einfachheit und Konſequenz ſo ſehr geſtört als dieſes Unterſcheidungsſtreben.
Die geradezu zwanghafte Vermeidung von Homonymen, die ja auch im Deutschen grassiert (Moor, Mohr, malen, mahlen, Leib, Laib, Waise, Weise, weise) ist völlig überflüssig, da der Kontext die Wörter unterscheidet. Die Sprache funktioniert ja in ihrer primären, mündlichen Form, seit Jahrtausenden vorzüglich, auch mit Homonymen!
Wie werden weise Reden / Weise reden und das / dass in der gesprochenen sprache unterschieden? Grossbuchstaben und doppel-ss hört man nicht. Hier kommt hin und wieder das argument, lesen sei schwieriger als hören und deshalb auf zusätzliche signale angewiesen. Das ist falsch, wie Leiss nachgewiesen hat.
Wo die unterscheidungsschreibung nicht existiert, wird sie nicht vermisst:Gericht (engl. court / dish), Anzeige (advertisement / advice / notice / display / complaint), Kiefer (pinetree / jawbone), Bedeutung (meaning / importance / significance / acceptation / consequence / bearing), Tor (der/das, früher beides Thor), sein (früher sein / seyn), Ton (früher Ton, klang / Thon, erde).
Wo sie existiert, wird sie primär als schreib- und lernschwierigkeit wahrgenommen. Ein grund dafür ist das psychologische fänomen der ähnlichkeitshemmung (de.wikipedia.org/wiki/Ranschburg-Phänomen). Lärche/Lerche kann man sich kaum ohne eselsbrücke merken. Das gilt auch für die kommasetzung.
Sie wird inkonsequent angewandt und funktioniert unzureichend (z. b. schwarzes Schaf nur so; 2 mögliche schreibweisen für 3 bedeutungen: gross schreiben / grossschreiben für für Sehschwache gross schreiben / Substantive grossschreiben / Teamarbeit grossschreiben).
Sie wird oft ignoriert oder falsch eingesetzt. Beispiele: für Sie und Ihn und Die Drei von der Tankstelle wird sehr häufig irreführend geschrieben, aber immer richtig verstanden. (Fundsachen.)
Die insgesamt mangelhafte funktion wird nicht wahrgenommen; vor allem laien halten die unterscheidungsschreibung für unentbehrlich.
Hermann Unterstöger, Süddeutsche Zeitung,
Jean-Marie Zemb (Paris) wertet Differenzierungen à la frei sprechen / freisprechen als Zeugnisse ”einer zur Gewohnheit gewordenen Rationalität des Schreibens, das auf Bedeutungsunterschiede Rücksicht nimmt”. Das ist schön gesagt und ehrenvoll für die Schreibenden. Andererseits herrscht am Collège de France, an dem Zemb lehrt, möglicherweise ein höherer Alltag als hier, wo man selbst unter den bedachtesten Schreibern öfter als eigentlich schicklich die Frage hören kann: ”Du, sag mal, schreibt man übelnehmen nun zusammen oder nicht?” Daraus läßt sich schließen, daß ziemlich viele weder die betreffenden Regeln kennen noch sie für wichtig genug halten, um eine gründlichere Beschäftigung mit ihnen in Betracht zu ziehen. Sie akzeptieren gemeinhin jeden der zwei möglichen Tips und kämen nie in Gefahr, Sätze wie ”Hillary hat Bill nichts übel genommen” in irgendeiner Weise mißzuverstehen.
Bei jeder änderung der schreibung gibt es zwangsläufig einen bereich, in dem grafische bedeutungsdifferenzierungen wegfallen, wofür in jeder diskussion sofort beispiele präsentiert werden. Der drohende verlust von unterscheidungsschreibungen spielt eine grosse rolle und führt zu einer überbewertung dieser funktion der ortografie.
Da reformen oft nicht eine aufhebung, sondern eine verschiebung von abgrenzungen bedeuten, können sie neue bedeutungsdifferenzierungen schaffen. Inkonsequenterweise ist die aussicht auf eine neue unterscheidungsschreibungen nicht attraktiv. Die psychologische erklärung dafür ist die verlust-aversion (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 6. 2001). In einem argumentativen salto können die reformgegner sogar einem «Schleier der Uneindeutigkeit» etwas abgewinnen (Süddeutsche Zeitung, 30. 1. 1999).
Unnötige unterscheidungsschreibungen wurden bewusst eliminiert. Das wurde 2006 teilweise rückgängig gemacht, aber z. t. nicht durch wiederherstellung der zwingenden unterscheidungsschreibung, sondern durch umdeutung in varianten. (Auch in Icklerswörterbuch.)
Neue unterscheidungsschreibungen: Stillleben, Betttuch/Bettuch.
„Vor allem die mit der Rechtschreibereform vollzogene Abschaffung der sogenannten Unterscheidungsschreibungen […] führt", wie der Präsident des Verbandes, der Kölner Völkerrechtler Hartmut Schiedermair, in Bonn erklärte, „zu einer unerträglichen Verkürzung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten."
Noch nicht einmal die Abschaffung von Bedeutungstüfteleien wie «auf dem Trockenen sitzen» (nicht nass haben unter der Hose) und «auf dem trockenen sitzen» (kein Geld haben) dürfte die deutschschreibende Menschheit wirklich weitergebracht haben, da solchen Sinnentaumel wohl schon vorher kein arbeitender Zeitgenosse beachtete.