Die „Schulorthographie“ […] enthält – zum Leidwesen der Setzer und der Korrektoren, die am liebsten für jedes Wort und jede Wortform nur eine Präge hätten – eine Anzahl von Doppelschreibungen; aber diese sind unvermeidlich. Denn erstens giebt es für einzelne Wörter zwei gleichberechtigte Aussprachen, oder vielmehr zwei verschieden, aber beide richtig gebildete Formen, denen auch zwei Schreibungen entsprechen müssen, z. B. in Hülfe und Hilfe. Und zweitens ist für den, der nicht radikal verfahren kann oder will, die Zulassung der neuen, dem Grundsatze der einfachen Lautbezeichnung entsprechende Form neben der an sich minder guten, aber noch üblicheren, das beste Mittel, die Herrschaft der besseren Schreibung anzubahnen. Das gilt z. B. für z neben c in manchen Fremdwörtern.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
varianz
- definition
- Tolerierung mehrerer schreibungen innerhalb eines regelwerks.
- gegensatz
- einheitlichkeit
- problem
-
Varianten sind u. a. eine folge von – aber auch eine voraussetzung für – änderungen der schreibung (reformen, angleichung von fremdwörtern). Die (evtl. vorübergehende) weiter bestehende «gültigkeit» der früheren variante soll die akzeptanz neuer schreibungen erhöhen. Bei der letzten neuregelung wurde in einigen fällen die (auch von uns angestrebte) reduktion von unterscheidungsschreibungen «entschärft».
Null varianz ist nicht möglich, aber im interesse der regelhaftigkeit der schreibung strebt man möglichst wenig varianz an.
- beispiele
-
rekeln/räkeln, aufwendig/aufwändig, ghetto/getto, portrait/porträt, sitzen bleiben/sitzenbleiben, komma zwischen hauptsätzen.
Beispiel für die unterscheidungsschreibung: vor 1996 sitzen bleiben = wörtliche, sitzenbleiben = übertragene bedeutung; 1996 sitzen bleiben = wörtliche und übertragene bedeutung; 2006 sitzen bleiben = wörtliche und übertragene bedeutung (also eine variante), sitzenbleiben = übertragene bedeutung.
Konrad Duden, Orthographisches Wörterbuch, 8. aufl., 1905
Das Ergebnis der Orthographischen Konferenz von 1901 war nur dadurch zustande gekommen, daß die Anhänger verschiedener Richtungen sich gegenseitig Zugeständnisse machten. Das geschah meistens durch Zulassung von Doppelschreibungen […]. Den Gelehrten, die sich über Formen wie Akzent, Kuvert u. dgl. entsetzten, stellte man nach wie vor Accent, Couvert zur Verfügung. So stehen denn die gelehrten Schreibungen oft friedlich neben den volkstümlichen. Das befriedigte aber die nach bestimmten Vorschriften Suchenden durchaus nicht.
Peter Müller, LEAD, Newsletter der SDA-Gruppe, 12. 2007
Varianten sind in der grafischen Industrie unbeliebt. Sie sind kostentreibend, weil sie zu Unsicherheit führen, weil Hausorthographien erstellt werden müssen, die naturgemäss unterschiedlich ausfallen. Schon früh in der Geschichte der Vereinheitlichung der Rechtschreibung drängten die Buchdrucker auf Festlegung auch der schwierigen Bereiche Gross- und Kleinschreibung und Getrennt- und Zusammenschreibung. Konrad Duden tat ihnen den Gefallen und brachte 1903 den Buchdrucker-Duden heraus, der 1915 mit Dudens Orthographischem Wörterbuch zum Duden vereinigt wurde.
Jan Fleischhauer und Christoph Schmitz: Hit und Top, Tipp und Stopp. Der Spiegel, 2. 1. 2006
[…] zwei Schreibweisen für ein und dasselbe Wort führen zur Verwirrung. Dass Schüler entscheiden können zwischen Portemonnaie (alt) oder Portmonee (neu), macht es ihnen nicht leichter. „Schreibt einfach Geldbeutel“, rät die Lehrerin der Klasse.
Peter Müller, srf.ch, schweizer fernsehen SRF 1, Tagesschau, 9. 8. 2015
Die rechtschreibung ist nicht einfacher geworden, sondern komplizierter. Die schüler […] müssen jetzt nämlich wissen, wo es varianten gibt und wo nicht.
Nein, sie müssen nur jeweils 1 lernen.
gri, forschung-und-lehre.de,
Verwirrung und Frustration der Ratsuchenden werden laut GfdS insgesamt vor allem deutlich, wenn es kein Richtig und Falsch gebe, sondern mehrere korrekte Varianten nebeneinander existierten.
Ralf Osterwinter, Sprachspiegel, 2. 2002
Grundsätzlich gegen Schreibvarianten spricht vor allem das bei Lesenden und Schreibenden gleichermassen weit verbreitete Bedürfnis nach Einheitlichkeit und Eindeutigkeit, das die Reformkommission vermutlich unterschätzt hat. Dass die neue Variantenvielfalt vom Gros der Sprachteilhaber keineswegs als Erweiterung ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten begrüsst wird, zeigt sich in vielen der täglich rund 180 Anrufe in der Duden-Sprachberatung. Die gewachsene Wahlfreiheit wird offensichtlich nicht selten als Qual der Wahl empfunden und deshalb rundweg abgelehnt.
Redaktion und Verlag, Die Welt, 1. 8. 2006
Die im März 2006 endgültig beschlossene Reform erlaubt nun eine solche Vielzahl von Schreibvarianten, dass die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung gefährdet ist.
Deutschlandradio, Deutschlandfunk, 1. 8. 2007
Nach Ansicht von Fritz Elster, Leiter der Schlussredaktion der "Süddeutschen Zeitung", hat der "Duden" durch die Angabe von drei Schreibmöglichkeiten die Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache zerstört.
Alois Grichting, Walliser Bote, 6. 5. 2011
Mit der Zulassung von «Es tut mir leid» als «Variante», verdeckten die Politiker nur die ihnen vom «Volk» aufgezwungene und peinliche Rückkehr zur herkömmlichen Schreibweise. […] Dieses durch die heuchlerische «Varianterei» entstandene Chaos ist auch noch 2011 gewaltig. Es verleitet die Schüler zur Meinung, Rechtschreibung sei gar nicht wichtig, ja beliebig.
Peter Haisenko, England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert, 2016
Es ist sogar zulässig, sich auf unterschiedliche Regeln zu berufen. Das erscheint auf den ersten Blick nicht so wichtig, tatsächlich ist es aber so, dass mit dieser Beliebigkeit in der Sprache ein wesentlicher Teil der deutschen Identität vernichtet wird.
Edgar Haberthür, NZZ am Sonntag, 26. 10. 2003
Klaus Reichert, Junge Freiheit, 10. 10. 2003
Jürg Amann, Schweizer Monatshefte, 11. 2010
Und ich - als Beispiel, das ich aus der eigenen Erfahrung kenne - aus Verlegenheit ins Impressum meiner neuen Bücher, die in meinem österreichischen Verlag erscheinen, Erklärungsnotsätze wie "Die Schreibweise des Autors orientiert sich an der schweizerischen moderaten neuen Rechtschreibung der Neuen Zürcher Zeitung» oder zuletzt "Die Rechtschreibung des Autors orientiert sich an den Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz SOK» drucken lassen muss; während die Bücher, die in meinem Hamburger Verlag erscheinen, undeklariert einer moderaten deutschen neuen Rechtschreibung verpflichtet sind. Von den verschiedensten Schreibweisen in den verschiedensten Anthologien und den Nachdrucken in Schulbüchern gar nicht zu sprechen. Ein Unding natürlich.
Ein unding natürlich. Ein ding wäre: "Die schreibweise des autors orientiert sich am moderaten vorschlag des Bundes für vereinfachte rechtschreibung."
Der Spiegel, 19. 6. 1995, s. 107
Könnten Sie nicht gelegentlich sagen: Das stellen wir frei? Der Gedanke, Freiheit zu gewähren, ist der Dudenredaktion völlig fremd, wie uns scheint. Drosdowski: Ja, der ist uns fremd, und der muß uns fremd bleiben. Wenn die Reformer ratlos und uneinig sind - eine für sie ziemlich typische Situation - und sich nicht für die eine oder andere Regelung entscheiden können, meldet sich immer irgend jemand zu Wort und ruft: Liberalisieren! Das ist Gift für die Rechtschreibung. Wir brauchen Klarheit. Aber je stärker man das Schreiben liberalisiert, desto schwerer macht man das Lesen. Der Leser erwartet eine gleiche Schreibweise, kein Neben- und schon gar kein Durcheinander. Und was soll der Lehrer tun? Den Schülern sagen, schreibt, wie ihr wollt?
Lukas Hartmann, Neue Zürcher Zeitung, 16. 8. 2004
[…] ich finde es noch abstruser, wenn aufgebrachte Gymnasiallehrer und Schriftsteller in der Gämse den Niedergang der deutschen Sprache zu erkennen glauben. Sollen sie doch weiterhin Gemse schreiben (das tue ich auch) und ihren Schülern beide Schreibweisen durchgehen lassen. Sind wir denn nicht fähig, bei den wenigen strittigen Fällen mehrere Schreibweisen nebeneinander zu ertragen? Die orthographische Anarchie war, nebenbei gesagt, zur Goethe-Zeit weit grösser als heute, und dennoch haben sich Brieffreunde, die ganz unterschiedlich schrieben, ohne Schwierigkeiten verstanden.
Elisabeth Leiss, Die regulierte §chrift, 1997, s. 98f.
Lesende müssen […] ein Wort nicht Buchstabe für Buchstabe wie ein Scanner abtasten. Es werden nur soviele Grapheme dekodiert als für das Verständnis nötig sind, dann wird der Dekodierungsprozeß abgebrochen – es sei denn, man stellt auf den 'Korrekturlesemodus' um und arbeitet jedes Wort linear ab. Die Leser der Moderne, die auf einer total normierten Orthographie bestehen, weil sie sich sonst gestört fühlen, haben sich unnötigerweise dauerhaft in den primitiveren 'Korrekturlesemodus' gezwungen. Einen funktionellen Vorteil hat diese Selbstdisziplinierungsmaßnahme nicht. […] Nur wer durch das Orthographiediktat zwanghaft geworden ist, reagiert erschüttert, wenn neben Kaiser auch Keiser oder Keyser etc. geschrieben wird.
Die Doppelherrschaft von alter und neuer Rechtschreibung hat unbeabsichtigt einen enormen Zivilisationsgewinn gebracht. Die alte Leitdifferenz von „richtig – falsch“, die immer nur eine Lösung durchgehen lässt, wird nun im Alltag von der überlegenen Unterscheidung „möglich – nicht möglich“ durchsetzt und langsam abgelöst. „Möglich – nicht möglich“, das ist etwas ganz anderes als die befürchtete Beliebigkeit, gar Anarchie im Schreiben!
Man würde zu einer ſolchen Einigung um ſo leichter gelangen, wenn man die Beſtimmungen für manche nebensächliche Punkte weniger ſchroff faßte und in manchen Fällen einige Freiheit der Wahl ließe. Man hat den Nachteil, den einige geringfügige Schwankungen mit ſich bringen, zu hoch angeſchlagen. Man hat andererſeits nicht berückſichtigt, daß ſolche Schwankungen notwendig zu jeder Entwickelung gehören. Geht man mit ſtarrer Unduldſamkeit gegen alle Schwankungen vor, ſo wird damit die Möglichkeit einer langſamen ſtätigen Entwickelung aufgehoben. Es bleibt dann nichts übrig als entweder ein ſtarres Feſthalten an dem einmal Fixierten mit Ausſchluß jeder weiteren Reform oder ein ſprungweiſes Reformieren, welches jedesmal wieder ſcharfe Gegenſätze erzeugt, die unſerer Überzeugung nach viel nachteiliger ſind, als es einige Schwankungen, die ſich mannigfach verteilen, ſein würden. Es dürfte daher wohl nichts ſchaden, wenn manche Vorſchriften nicht als direkte Gebote, ſondern nur als Empfehlungen gegeben würden. So würbe es am erſten möglich ſein, durch wiederholte Reviſionen nach und nach weitere Verbeſſerungen anzubringen.