Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Warum sind wir für die kleinschreibung?
Die diskussion über die gemäßigte kleinschreibung hat einen gewaltigen sturm entfacht und auch im nächsten halben jahr noch da und dort die gemüter erregen.
Die freunde der kleinschreibung freuen sich darob, denn die frage »groß oder klein?« soll nicht leichthin entschieden werden. Sie ist einer eingehenden prüfung wert.
Die gegner der neuregelung betonen vor allem, daß die großschreibung den schüler zwinge, tiefer in das wesen der sprache einzudringen, daß sie zum denken anrege und zur formalen geistesbildung beitrage. Mit einigem recht machen sie ferner geltend: In der großschreibung des »hauptwortes« spiegelt sich eine besondere eigenart der deutschen denkweise wider. Sie legt äußerlich dafür zeugnis ab, daß die »sprache dichter und denker« die dinge geistig zu durchdringen weiß. Außerdem gebietet das gefühl der pietät, jene schreibweise beizubehalten, in der uns die reifsten und schönsten früchte der deutschen dichtung überliefert worden sind. Ja, es fragt sich überhaupt, ob wir die klassischen dichtungen ohne schwierigkeiten verstehen könnten, wenn sie uns in kleinschrift vorgelegt würden. Daß diese bedenken nicht einfach aus der Luft gegriffen sind, sondern sich auf eingehende untersuchungen stützen, legt u. a. Werner Burkhards aufsatz in der NZZ (nr. 1440, 1950) dar. Es seien daraus die folgenden ausführungen wiedergegeben:
»Nun besitzen wir in den Majuskeln ein sehr einfaches Mittel, die Akzidentalsubstantive dem Leser deutlich zu machen und außerdem viele homonyme Wörter zu unterscheiden (los: das Los; wild: das Wild; laut, laute: der Laut, die Laute; winde, winden: die Winde, die Winden u. a. m.)«
»Der Leser wird wohl merken, daß durch den Verzicht auf Majuskeln die Wendung das liebe ich doppeldeutig wird, ebenso der Satz: Was ist der mensch, wenn sein höchstes gut essen und schlafen ist. Gesprochen werden beide Aussagen je nach der Betonung so oder so verstanden.
Um uns aber nicht dem Vorwurf auszusetzen, solche Zweifelsfälle würden von uns in boshafter Weise erfunden, wollen wir einige Proben aus Dichtern mitteilen. – Der Leser antworte sich ehrlich, ob er die nachstehenden Anfangsstrophen eines Gedichtes von George nach der ersten Durchsicht verstanden habe:
So ist bei euch das los: nach kurzen fristen
Der stolzen blüte hausen lichtverächter
Mit rohem schwärmen und die vipern nisten.
Nur heimlich sind dem zarten keime wächter.
Und wäre niemand versucht, in dem Eichendorffschen Verse:
Wie bald läge unten alles bange, trübe
die letzten beiden Wörter, die Substantive sind, als Adverbien aufzufassen?
Von Akzidentalsubstantivcn macht Goethe reichlich Gebrauch, so etwa in den Faust-Versen:
Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen …
Würde sich niemand verleiten lassen, den zweiten Vers so zu lesen, wie wenn stünde: Will ich in meinem Innern selbst genießen?
Daß unter Umständen die Kleinschreibung einen Text geradezu unverständlich macht oder völlig entstellt, während die Majuskeln Ton und Sinn festlegen, beweist folgende Anfangsstrophe aus Rilkes Sonetten an Orpheus:
Zu unterst der alte, verworrn,
all der erbauten
wurzel, verborgener born,
den sie nie schauten.
Die originale Schreibweise ist diese:
Zu unterst der Alte, verworrn,
all der erbauten
Wurzel, verborgener Born,
den sie nie schauten.
Betreten wir gar das Feld der philosophischen Sprache, so würden wir uns ohne die Kennzeichen der Substantive oft nur schwer oder gar nicht zurechtfinden … (Vgl. Schiller: vielmehr soll er das absolute sein durch ein bestimmtes und das bestimmte sein durch ein unendliches suchen.) – Undenkbar vollends, wie die nominal-ontologische Ausdrucksweise des deutschen Existenzialismus der Substantivmajuskeln entraten könnte, haben diese doch sogar die (allerdings nicht gefahrlose) Möglichkeit geschaffen, mündlich kaum mehr oder nur umständlich Sagbares dem Leser verstehbar mitzuteilen. Wir begnügen uns mit einer kurzen und leichten Kostprobe aus Martin Heideggers Sein und Zeit: Das man gibt recht und steigert die versuchung das eigenste sein zum tode sich zu verdecken. Im Buche selbst bietet sich der Satz so dar: Das Man gibt Recht und steigert die Versuchung, das eigenste Sein zum Tode sich zu verdecken.«
Er sagt abschließend: »Denn wahrlich, zu einem guten Ende führt es nicht, wenn man ein Instrument, wie es die Schrift dem Kulturmenschen ist, dermaßen vereinfacht, daß man damit gewisse Unterscheidungen und Feinheiten des Denkens nicht mehr mitteilen kann. Je länger wir uns denn mit der geplanten Reform beschäftigt haben, um so weniger haben wir uns des Eindrucks erwehren können, daß sie einen weitern Schritt in der all. gemeinen Simplifikation und Nivellierung des geistigen Lebens bedeuten würde. Und da soll gar von der Schweiz aus diesem Prozeß Vorschub geleistet werden?«
Dieses bedenken wiegt schwer und will erwogen werden. Es steckt ohne zweifel etwas wahres darin. Doch bevor wir uns damit beschäftigen, sei noch auf ein argument hingewiesen, das besonders das buchdruckergewerbe erhebt. Man befürchtet hier, die kleinschreibung zerstöre das schriftbild, mache es eintönig und fad und hemme das rasche erfassen.
Die freunde der kleinschreibung verschließen sich diesen einwänden nicht. Wir wissen, daß jede reform nachteile mit sich bringt. Eine reform ist aber immer berechtigt, wenn ihre vorteile die nachteile überwiegen. Und das scheint uns hier der fall zu sein. Wir gehen dabei von den folgenden erwägungen aus:
Ein wesentlicher teil des deutschunterrichtes muß sich darin erschöpfen (und leerlaufen), den schüler in die geheimnisse der großschreibung einzuweihen. Und die erfahrung zeigt, daß trotzdem nur ein ganz kleiner kreis von besonders erleuchteten je einmal die letzten mysterien der Dudenschen regeln erfaßt. Daß die namen konkreter dinge groß geschrieben werden müssen, begreift zwar mit der zeit auch der mittelmäßige Sprachlehrling. Den regeln über die substantivierten verben und die akzidentalsubstantive ist aber gewöhnlich nicht einmal der mittelschüler gewachsen. Und die rechtschreibung der adverbial gebrauchten wörter und wortfügungen (recht, Unrecht; zum voraus, im folgenden, das Folgende) betrachtet selbst der gebildete als eine spezialwissenschaft. Die schule widmet also eine unsumme an zeit, ärger und mühe für eine regel, die nur einen zweifelhaften gewinn bringt. Darf sie das länger verantworten? Könnte sie die kostbare zeit des sprachunterrichtes nicht viel fruchtbarer ausnützen, z. B. mit übungen, die den stil verfeinern usw. usw. Damit ließe sich der befürchteten geistesnivellierung leicht entgegenwirken.
Abgesehen von diesen praktischen beweggründen, die vor allem den gequälten lehrer der untern und mittelstufe beseelen, gibt es aber auch sprachtheoretische bedenken gegen die großschreibung, denen kaum widersprochen werden kann: Die großschreibung ist willkürlich eingeführt worden. Sie verstößt gegen das wesen der deutschen Sprache, wenn sie das substantiv zum »hauptwort« stempelt und es gar noch durch majuskeln hervorhebt. Das eigentliche hauptwort unserer sprache ist und bleibt das verb. Daran gibt es nichts zu rütteln. Die substantivseuche wirkt zwar heute diesem sprachprinzip in der presse und im geschäftsstil entgegen und hat uns alle bereits irgendwie angesteckt. Der sprach- und stilunterricht hat sich aber dagegen zu wehren, er hat mit allen mitteln die pflege und den gebrauch des verbs zu lehren. Kann das aber geschehen, solange dem substantiv alle aufmerksamkeit geschenkt werden muß?
Vermutlich hat gerade die großschreibung den substantivkult gefördert. Die kleinschreibung wäre dazu berufen, den glauben an das »hauptwort« zu zerstören. Dies scheint die einzige Möglichkeit zu sein, dem stilunterricht weiterzuhelfen. Die auseinandersetzung mit dem stil trägt bestimmt ebensoviel zur geistesbildung bei wie die kenntnis der großschreibe-regeln!
Die forderung, die majuskeln des substantivs abzuschaffen, ist nicht neu. Sie geht auch nicht von der Schweiz aus. Bereits vor mehr als 100 jahren haben die gebrüder Grimm die problematik der großschreibung erkannt. Sie schrieben ihre werke, mit denen sie die deutsche sprachwissenschaft begründet haben, klein. Das dreißigbändige Deutsche Wörterbuch, das sie begonnen haben und das in absehbarer zeit vollendet sein wird, kommt ohne substantivmajuskeln aus. In den 100 jahren, die dieses einzigartige werk bis zur vollendung erfordert hat, haben alle die namhaften mitarbeiter ihre beiträge in kleinschrift verfaßt. Es wird niemand wagen, gegen diese leute, die der deutschen sprache einen so unermeßlichen dienst geleistet haben, den vorwurf zu erheben, sie hätten die geistesnivellierung gefördert!
Es bleibt noch die frage zu prüfen, ob der kleingeschriebene text tatsächlich zu mißverständnissen führen müsse. Zweifellos lassen sich nicht alte dichterischen werke ohne schwierigkeit von den majuskeln säubern. Man wird deshalb für solche fälle (philosophische werke etc.) eine besondere lösung auszuarbeiten haben. (Warum sollen sie die bisherige regelung nicht beibehalten?) – Auf keinen fall aber kann das spezialdeutsch der existenzialisten (Erich Kästner nennt es eine fremdsprache) als kronzeuge gegen die kleinschreibung beschworen werden. Denn diese ausdrucksweise hat mit dem konventionellen deutsch nur wenig gemeinsam! – Eine eingehende beschäftigung mit dem Grimmschen wörterbuch (das auch sämtliche zitate in kleinschrift wiedergibt), hat mir jedenfalls bewiesen, daß der kleingeschriebene text keine verständnisschwierigkeiten bietet. Unter abertausenden von zitaten und erläuterungen, die ich durchzusehen hatte, stieß ich nur ein einziges mal auf eine stelle, wo Grimm genötigt war, den vermerk »subst.« beizufügen. Das gleiche ist über die abhandlungen von Wilhelm Wackernagel, über das Mittelhochdeutsche Handwörterbuch von M. Lexer und über eine menge anderer abstrakter werke zu sagen. Das moderne deutsch der presse, des geschäftswesens, des romans, des schulbuches usw. usw. kann die substantivmajuskeln jederzeit entbehren.
Es wird nicht jedermann leicht fallen, sich von der bisherigen schreibgewohnheit zu trennen. Es mag mancher das gefühl nicht loswerden, mit der großschreibung verliere die sprache etwas wesentliches. Die schule aber wird bei einer abschaffung der alten regeln erleichtert aufatmen und die nachteile wettzumachen wissen.