Horst Haider Munske, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 10. 2004
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
autonomiehypotese
Schrift (geschriebene sprache) entwickelt sich unabhängig von der gesprochenen sprache und folgt anderen prinzipen. Gegensatz: dependenzhypotese; schrift (wenigstens im fall der alfabetschrift) ist eine sekundäre, zusätzliche, willentliche realisierung der gesprochenen sprache. Interdependenzhypotese: geschriebene sprachform ist nicht sekundäre ausdrucksform der gesprochenen, aber diese ist stets das modell für die verschriftung.
Pro
Wolfgang Krischke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 8. 2011
Was Duden und andere Reformer bewusst herunterspielten, war, dass die Schrift sich gegenüber dem gesprochenen Wort schon längst emanzipiert hatte. Seit dem Mittelalter – als Texte grundsätzlich laut gelesen wurden – hatte sie sich vom reinen Laut-Code für das Ohr zu einem differenzierten System für das Auge entwickelt, das dem Leser durch grammatische und semantische Zusatzinformationen die Sinnzusammenhänge verdeutlicht. Viele scheinbar unlogische Regeln erleichtern die visuelle Verarbeitung […].
Kontra
Leo Weisgerber, Die Verantwortung für die Schrift, 1964
Sprache ist primär, Schrift ist sekundär.
O. Kosog, Unsere Rechtschreibung und die Notwendigkeit ihrer gründlichen Reform, , s. 14
[…] das Wesentliche der Sprache ist doch sein Laut- und Wortschatz, die Satzkonstruktion, der Inhalt; die Schreibweise dagegen ist etwas Nebensächliches, nichts weiter als die äußere Form, das Gewand der Sprache.
Gerhard Stickel, Der Tagesspiegel, 1. 8. 2005
Es handelt sich bei der Schreibung weitgehend nur um die Verpackung, um die äußere Hülle der Sprache.
Elisabeth Leiss, Die regulierte §chrift, 1997, s. 57ff.
Bei der Alphabetschrift, also bei der Verschriftung der Ausdrucksseite, wird der Inhalt immer mitassoziiert. Er ist sozusagen 'in Abwesenheit anwesend'. Die Umkehrung trifft ebenfalls zu. Wird bei der Verschriftung einer Sprache der Inhaltsseite Priorität zugestanden, wird also der Inhalt durch die Schriftzeichen sichtbar gemacht, wie zum Beispiel im chinesischen Schriftsystem, dann wird die entsprechende Aussprache sofort damit assoziiert. Ganz gleich, welches Schriftsystem man wählt, jedesmal gilt, daß jeweils nur die 'Hälfte der Sprache' sichtbar gemacht wird. Jedes dieser Schriftsysteme ist auf seine Art ökonomisch. Nicht mehr ökonomisch sind jedoch Alphabetschriften, in die durch willkürliche orthographische Normierungen eingegriffen wurde. Sie erzwingen eine doppelte Gedächtnisleistung. […] Wer sich zusätzlich Wortbilder merken muß, d.h. Bilder, die nicht automatisch evoziert und assoziiert werden, weil sie ja nicht zur Bedeutung, sondern wiederum nur zur Ausdrucksseite gehören, verwendet ein Zeichensystem, das völlig unnötig und unmotiviert zusätzliche Gedächtniskapazität verschwendet. Der Vorteil eines guten Verschriftungsmediums, nämlich daß nur die Hälfte des sprachlichen Zeichens materialisiert zu werden braucht, wird aufgegeben. Das Verschriftungsmedium wird somit nicht optimal genutzt. Orthographietheoretiker haben für dieses Dilemma einen fragwürdigen Ausweg gefunden. Sie postulieren die Autonomie des Schriftsystems von der gesprochenen Sprache. Sie suggerieren damit, auch die Alphabetschrift sei – ähnlich wie etwa das Chinesische – unabhängig von der gesprochenen Sprache. Sie behaupten sogar, das für Alphabetschriften charakteristische phonographische Prinzip sei gar nicht so wichtig. Es gebe weit wichtigere Prinzipien, die wirksam seien. Das trifft jedoch nicht zu oder stellt zumindest eine ungerechtfertigte Übertreibung dar. […] Die These von der Autonomie der Alphabetschrift ist dennoch auf überraschende Resonanz gestoßen. Die Defekte einer durch orthographische Eingriffe verstümmelten Alphabetschrift werden als prinzipiengeleitete Vorzüge umgedeutet.